Herr Gouverneur, Sie sind seit 1. September in Ihrer neuen Funktion. Was schätzen Sie an Ihrer neuen Aufgabe? Und was macht Ihnen weniger Freude?
Martin Kocher: Ich schätze an meiner neuen Aufgabe vor allem die große Vielfalt und die inhaltliche Arbeit. Die OeNB bündelt Expertise und Verantwortung für Preisstabilität, Finanzmarktstabilität und den Standort. Es ist ein Privileg, diese Institution gemeinsam mit einem hochkompetenten Team nach außen vertreten und weiterentwickeln zu dürfen. Freude macht mir auch der enge Austausch mit so vielen Fachleuten im Haus und im internationalen Umfeld.
Weniger Freude bereiten naturgemäß die Zwänge, die eine solche Funktion mit sich bringt – etwa, dass es klare Grenzen gibt, was ich wann sagen darf. In der sogenannten „Quiet Period“ vor EZB-Ratssitzungen etwa ist öffentliche Zurückhaltung zu geldpolitischen Themen Pflicht. Auch schwierige Entscheidungen, die nicht allen gefallen werden, gehören dazu. Aber ich sehe das nicht als Last, sondern als Teil der Verantwortung, die mit diesem Amt verbunden ist.
Vergangene Woche war Ihre erste Zinssitzung in Frankfurt. Wie sehen Sie den EZB-Entscheid?
Kocher: Ich habe im Vorfeld betont, dass mir eine vorsichtige Zinspolitik wichtig ist – gerade um ein mögliches Auf und Ab der Zinsen zu vermeiden. Ich trete für eine „Politik der ruhigen Hand“ ein. Die Diskussionen waren intensiv und gehen immer über mehrere Stunden. Dabei bekommt jedes Argument seinen Platz. Am Ende steht diesmal eine Entscheidung, die alle mittragen.
In der Vergangenheit wurde der EZB vorgeworfen, zu lange an der Null- bzw. Negativzinspolitik festgehalten zu haben. Die Folge war eine steile Zinskurve nach oben. Danach wurden die Zinssenkungen nach Meinung vieler zu spät vorgenommen. Was kann man daraus lernen?
Kocher: Vertrauen gewinnt man mit konsequentem Handeln. Deshalb ist entscheidend, dass wir klar, konsistent und faktenbasiert bleiben. Die Inflation im Euroraum liegt bei den angestrebten 2 Prozent. Noch nie wurde eine relativ hohe Inflation so rasch auf den Zielwert zurückgeführt.
Die Herausforderungen für die Geldpolitik und Wirtschaft sind immens – vor allem in Österreich. Die Inflation ist hierzulande doppelt so hoch wie in der EU. Welche Ideen haben Sie, um die Teuerung in Österreich in den Griff zu bekommen?
Kocher: Dass die Inflation in Österreich zuletzt über dem Euroraum-Durchschnitt lag, hat mehrere Gründe. Ein wichtiger Faktor sind die im internationalen Vergleich besonders starken Preissteigerungen bei Dienstleistungen, etwa in Gastronomie und Tourismus. Der Warenkorb ist stärker durch Dienstleistungen geprägt als in anderen Ländern. Dazu kommen verzögerte Effekte aus früheren Energiepreissteigerungen und eine Lohnentwicklung, die schneller auf die hohe Teuerung reagiert hat als in vielen anderen Ländern.
Die OeNB bringt die österreichische Position im EZB-Rat ein. Konkrete Instrumente für die Bekämpfung von möglichen Inflationsdifferentialen liegen bei Gesetzgeber und Regierung. Entscheidend ist: Nur wenn alle Beteiligten – Geldpolitik, Wirtschaft und Sozialpartner – ihren Beitrag leisten, kann der Preisdruck nachhaltig nachlassen.
Die Löcher in diversen öffentlichen Haushalten in Österreich führen zu Erhöhungen von Steuern, Gebühren und administrierten Preisen wie zuletzt in Wien und im Sommer im Bund. Das befeuert die Inflation. Was sagen Sie dazu?
Kocher: Die notwendige fiskalische Konsolidierung wird wohl überwiegend über die Ausgabenseite, aber auch teilweise über die Einnahmenseite erfolgen müssen. Auf der Einnahmenseite spielt auch die Erhöhung von Gebühren und Steuern eine Rolle. Die bisher bekannten fiskalischen Konsolidierungsmaßnahmen in diesem Bereich spielen nicht die entscheidende Rolle bei der zukünftigen Inflationsentwicklung, aber sie erhöhen unseren Berechnungen zufolge die Inflationsrate leicht, heuer um 0,05 Prozentpunkte, 2026 um etwa 0,2 Prozentpunkte.
Was macht Ihnen derzeit abseits des Nummer-1-Themas Inflation die meisten Sorgen?
Kocher: Natürlich steht die Inflation derzeit im Vordergrund, weil sie alle betrifft. Aber daneben gibt es weitere Themen, die sehr wichtig sind. Allen voran die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa und Österreich. Wir sehen hohe Lohnstückkosten, relativ hohe Energiepreise und eine schwache Produktivitätsentwicklung. Wenn wir da nicht gegensteuern, droht uns ein Verlust an Dynamik und Investitionen. Ein zweiter Punkt ist die Demografie: Der Rückgang des Arbeitskräfteangebots wird uns noch stärker beschäftigen. Schon jetzt spüren viele Unternehmen den Mangel an qualifizierten Mitarbeitern. Das ist nicht nur ein Arbeitsmarkt-, sondern auch ein Wachstums- und Innovationsproblem. Und drittens denke ich an die geopolitischen Unsicherheiten – vom internationalen Handel bis zur Energieversorgung. Diese Faktoren lassen sich national kaum beeinflussen, aber sie wirken massiv auf Wirtschaft und Geldpolitik. Für mich heißt das: Wir müssen in Europa resilienter und unabhängiger werden, sei es bei Energie, Technologie oder Finanzmärkten.

„Die Talsohle ist durchschritten und es geht aktuell wieder langsam bergauf.“
Martin Kocher
Österreich war 2023/24 in der längsten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg. Heuer dürfte sich die Konjunktur stabilisieren, eine echte Erholung sieht aber anders aus. Hat Österreich ein Wachstumsproblem?
Kocher: Ja, ich denke, man kann sagen: Aktuell kämpft Österreich um wirtschaftliche Dynamik. Aber wir sehen in unserer aktuellen Prognose von 2025 auch, dass die Talsohle durchschritten ist und es aktuell wieder langsam bergauf geht. Es ist auch wichtig, auf die Stärken Österreichs hinzuweisen: Wir haben eine sehr gut ausgebildete Bevölkerung, einen funktionierenden Sozialstaat und beispielsweise international wettbewerbsfähige Industriebetriebe. Um das Potenzial voll auszuschöpfen, braucht es Verbesserungen bei Standortqualität und Wettbewerbsfähigkeit. Die OeNB kann hier mit ihrer Expertise Orientierung geben.
Zu den Aufgaben der OeNB zählt auch die Finanzmarktstabilität. Wie hat sich diese zuletzt entwickelt? Welche Gefahren für den Finanzmarkt haben Sie besonders am Radar?
Kocher: Die Stabilität des österreichischen Finanzmarktes ist insgesamt hoch. Unsere Banken sind solide kapitalisiert, die Einlagen der Kunden sind sicher und auch international hat Österreich eines der stabilsten Bankensysteme weltweit. Auch die Profitabilität der österreichischen Banken ist im langjährigen Vergleich relativ hoch. Das ist einerseits auf das Ende des Niedrigzinsumfelds zurückzuführen. Andererseits lieferten die Tochterbanken in Zentral-, Süd- und Südosteuropa (CESEE) einen wichtigen Beitrag zur Gewinnsituation. CESEE ist eine wachstumsstarke Region und trägt zur Diversifikation der Geschäftsmodelle der österreichischen Banken bei. Natürlich gibt es Entwicklungen, die wir genau beobachten müssen. Die OeNB hat hier eine klare Rolle: Wir müssen frühzeitig Risiken erkennen, Maßnahmen vorschlagen und dafür sorgen, dass unser Finanzmarkt auch in turbulenten Zeiten widerstandsfähig bleibt. Das ist entscheidend für das Vertrauen der Menschen und für die Stabilität unserer Wirtschaft.
Die Bankenabgabe entzieht dem Bankensektor Kapital, das dieser für den Resilienzaufbau benötigt. Was halten Sie von dieser Maßnahme?
Kocher: Es ist nachvollziehbar, dass der Staat in einer angespannten budgetären Lage nach Lösungen sucht. Ich persönlich habe mich immer gegen Ad-hoc-Steuern ausgesprochen, die anlassbezogen eingeführt werden und in keinen größeren Zusammenhang passen.
Mit dem digitalen Euro will die EZB die Autonomie Europas schützen. Bedeutet die Einführung einer digitalen Währung nicht auch Konkurrenz für die Banken, etwa im Einlagengeschäft?
Kocher: Der digitale Euro als Projekt der EZB soll die Souveränität Europas im Zahlungsverkehr stärken. Es geht dabei nicht darum, den Banken Konkurrenz zu machen, sondern vielmehr um eine digitale Ergänzung zu bestehenden Zahlungsformen. Der digitale Euro soll ein zusätzliches, sicheres Zahlungsmittel werden, das in ganz Europa funktioniert und Bargeld ergänzt.
Die OeNB versorgt seit Juli Gemeinden, in denen es keine finanzielle Nahversorgung gibt, mit Bankomaten. Wie sind die ersten Erfahrungen damit?
Kocher: Der einfache Zugang zu Bargeld ist für viele Menschen in Österreich weiterhin wichtig, gerade in ländlichen Regionen. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass die laufende Initiative der OeNB dazu einen Beitrag leisten kann. Die ersten Erfahrungen sind positiv.
Aufgrund der früheren Anleihenkäufe erzielte die OeNB 2024 einen Bilanzverlust von 4,2 Mrd. Euro und einen geschäftlichen Verlust von 2,1 Mrd. Euro. Wann rechnen Sie damit, dass die OeNB wieder positiv wirtschaften kann?
Kocher: Das ist auf die vergangene – notwendige – Geldpolitik zurückzuführen und wird in der medialen Debatte oft verkürzt dargestellt. Eine Zentralbank ist zwar eine Aktiengesellschaft, aber die Verluste haben – anders als bei privaten Unternehmen – keine negativen Folgen. Zentralbanken sind aufgrund ihrer Geldschöpfungsfunktion immer zahlungsfähig und können auch mit negativem Eigenkapital operieren. Viele Notenbanken weltweit schreiben derzeit Verluste. In den kommenden Jahren werden die Verluste abgetragen und dann wird die OeNB wieder Gewinne an den Fiskus abliefern.