„Die Menschen suchen Regionalität, Verlässlichkeit und Nähe“

Generalanwalt Erwin Hameseder liefert im großen Neujahrs-Interview Perspektiven für Österreichs Zukunft und spricht über Standortpolitik, EU-Impulse und das Jahr der Genossenschaften.

Herr Generalanwalt, wie bewerten Sie die aktuellen innenpolitischen Entwicklungen in Österreich?
Erwin Hameseder: Das Scheitern der Regierungsverhandlungen hat mich tief betroffen gemacht. Jetzt ist es entscheidend, einen entschlossenen und energischen Neustart zu machen, um die Gespräche in der neuen Konstellation so schnell wie möglich abzuschließen. Die oberste Priorität liegt nun darin, mit proaktiven Maßnahmen ein drohendes Defizitverfahren der EU gegen Österreich abzuwenden und so die Stabilität im Land wiederherzustellen. 

Welche Erwartungen haben Sie an die neue Regierung, um die Wettbewerbsfähigkeit Österreichs zu stärken?
Hameseder: Österreich braucht attraktive Rahmenbedingungen, um Unternehmen zu Investitionen zu bewegen. Eine attraktive Steuerpolitik, ein bedingungsloser Bürokratieabbau und eine Planbarkeit für Investitionen sind dafür Schlüsselfaktoren. Ziel sollte sein, dass Österreich wieder ein interessanter Standort für Europa und für die ganze Welt wird, an dem sich Unternehmungen ansiedeln und investieren. Wir stehen in einem internationalen Wettbewerb mit anderen Standorten und brauchen daher neue Impulse. Diese Impulse brauchen wir für alle Unternehmen in Österreich, besonders für die Industrie.

Wie bewerten Sie die aktuelle wirtschaftliche Lage in Österreich, insbesondere im Hinblick auf das stagnierende Wachstum und die anhaltende Inflation? Welche Trends sehen Sie für das kommende Jahr?
Hameseder: Österreich steht insbesondere als Wirtschaftsstandort unter Druck. Nach zwei Rezessionsjahren müssen Maßnahmen gesetzt werden, um ein drittes Jahr mit negativem Wachstum zu vermeiden. Österreich ist aufgrund hoher Energie- und Arbeitskosten sowie einer Abgabenquote im europäischen Spitzenfeld ins Hintertreffen geraten. Eine künftige Bundesregierung wird aktiv gegensteuern müssen, um Arbeitsplätze und Wohlstand in Österreich erhalten zu können. Dafür brauchen wir ein investitionsfreundliches Klima, um Innovationen und Produktivität voranzutreiben. Nur so kann Österreich im internationalen Wettbewerb auch bestehen.

„Die Raiffeisenbanken haben ihre Hausaufgaben gemacht.“

Erwin Hameseder

Welche Herausforderungen sehen Sie in diesem schwierigen Umfeld für Banken?
Hameseder: Die Banken hatten aufgrund der Nullzinspolitik der EZB die schwierigsten Rahmenbedingungen der vergangenen Jahrzehnte. Durch Kosteneinsparungen und Produktivitätssteigerungen konnten sie in dieser Niedrigzinsphase dennoch profitabel bleiben. Kurz gesagt: die Raiffeisenbanken haben ihre Hausaufgaben gemacht, Dieses konsequente Vorgehen ist den Banken nun nach der Zinswende in den vergangenen zwei Jahren zugutegekommen. Sie haben zusätzliches Eigenkapital für die Risikovorsorge aufbauen können und damit ihre Widerstandsfähigkeit deutlich erhöht. Durch die aktuelle schwierige wirtschaftliche Lage und die Zinswende haben die Risiken wieder zugenommen und wir sehen einen starken Anstieg der Insolvenzen. Als Raiffeisen Bankengruppe haben wir daher 2024 höhere Risikovorsorgen gebildet. Dieser Trend wird sich 2025 fortsetzen. Ein proaktives Risikomanagement ist also auch im Jahr 2025 gefragt, um sich auf diese Herausforderungen einzustellen. 

Wie beurteilen Sie die Lage am Immobilienmarkt und das Auslaufen der KIM-Verordnung?
Hameseder: Die KIM-Verordnung kam zur Unzeit. Während einer Boomphase ab 2020 wäre sie gerechtfertigt gewesen, aber in Zeiten steigender Zinsen war sie das volkswirtschaftlich gesehen nicht mehr. Wir sind froh, dass sie Mitte 2025 ausläuft, und freuen uns, dass bereits die Ankündigung gewisse positive Effekte zeigt: Kreditgeschäfte für Häuslbauer und künftige Wohnungseigentümer nehmen zu, was auch Bauwirtschaft und Zulieferindustrie sukzessive beleben wird. Dies ist dringend notwendig, um den Wohnungsbau und die Konjunktur zu stabilisieren. Die steigenden Baukosten und die bisher erschwerten Finanzierungsbedingungen belasten nach wie vor den Wohnungsbau. Es braucht also Maßnahmen, um leistbares Wohnen zu sichern und die Baubranche zu unterstützen. 

Welche Impulse sollte die neu gewählte EU-Kommission setzen?
Hameseder: Europa braucht eine konsistente Industriestrategie, um im weltweiten Wettbewerb wieder Boden gutzumachen. Der Rückgang des EU-Anteils am weltweiten Bruttoinlandsprodukt zeigt einen dramatischen Handlungsbedarf auf. Die Europäische Kommission muss einen Plan vorlegen, wie Europa im internationalen Wettbewerb wieder mitspielen kann. Ein wesentlicher Punkt ist der Bürokratieabbau. Nachhaltigkeitsberichte und andere regulatorische Anforderungen wie die Lieferketten-Richtlinie schießen oft über das Ziel hinaus und sind übermäßig aufwändig. Ein Nachhaltigkeitsbericht hat heute schon mehr Volumen als ein gesamter Geschäftsbericht. Zwar spricht die EU von einer Reduktion des Bürokratieaufwands um 25 Prozent, jedoch fehlt bisher die praktische Umsetzung. Der gemeinsame Wirtschaftsraum ist nach wie vor die große Stärke Europas. Daher ist es unabdingbar, dass durch die richtigen strategischen Steuerungsmaßnahmen wieder die internationale Wettbewerbsfähigkeit und geopolitische Rolle Europas gestärkt wird.  

Erwin Hameseder im Interview
© Roland Rudolph

„Unsere Genossenschaftsidee bietet Antworten auf die Tendenzen der Globalisierung und der Anonymität in einer digitalisierten Gesellschaft.“

Erwin Hameseder

Raiffeisen steht für die Genossenschaftsidee, die auf Solidarität und gemeinschaftlicher Selbsthilfe basiert. Wie relevant sind diese Prinzipien von Raiffeisen heute?
Hameseder: Unsere genossenschaftliche Überzeugung, gemeinsam mehr bewegen zu können, unsere Entscheidungen vor Ort und unser Zusammenhalt sind aktueller denn je. Unsere Genossenschaftsidee bietet Antworten auf die Tendenzen der Globalisierung und der Anonymität in einer digitalisierten Gesellschaft. Gerade jüngere Menschen sprechen unsere Werte sehr stark an. Oftmals wissen sie aber zu wenig über unsere Art des Wirtschaftens. Wir als Österreichischer Raiffeisenverband wollen unsere Werte im heurigen Jahr der Genossenschaften stärker ins Bewusstsein rufen und sichtbar nach außen kommunizieren. 

Wie kann Raiffeisen junge Menschen für das Modell der Genossenschaft begeistern?
Hameseder: Das kann nur gelingen, wenn die Idee der Mitgliederförderung proaktiv vermittelt wird. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Geschäftsleiterinnen und Geschäftsleiter sowie Funktionärinnen und Funktionäre sollten die Vorteile einer Mitgliedschaft in Genossenschaften in ihrem Umfeld deutlich kommunizieren. Eine neue Mitgliederbroschüre des ÖRV bietet Anleitungen zu einer solchen proaktiven Mitgliedergewinnung. Alle Raiffeisen-Genossenschaften müssen gerade junge Menschen auch künftig für eine Mitgliedschaft begeistern. Nur so können wir als Genossenschaftssektor auch in Zukunft erfolgreich sein.

Warum ist die Ausbildung für genossenschaftliche Funktionäre so wichtig?
Hameseder: Die Funktionärinnen und Funktionäre müssen auf Augenhöhe mit dem jeweiligen Management kommunizieren und in der Lage sein, ihre Kontrollfunktion effektiv wahrzunehmen. Sie müssen Sparringpartner sein, wenn es um neue Strategien geht. Vielfalt in den Aufsichtsgremien ist entscheidend – nicht nur geschlechtlich, sondern auch in Bezug auf eine berufliche Streuung. Eine breite Expertise führt zu besseren Entscheidungen. Die Qualifikation der Funktionäre sichert die Zukunft der Genossenschaften. Sie müssen strategische Themen verstehen und in der Lage sein, fundierte Entscheidungen zu treffen. Der Raiffeisen Campus bietet dafür umfassende Schulungen an, um dieses Ziel zu erreichen.

Erwin Hameseder im Interview
© Roland Rudolph

Gerade in Zeiten der Globalisierung und zunehmender Individualisierung scheint die Idee von Kooperation und regionaler Verankerung wichtiger denn je. Wie kann Raiffeisen das Vertrauen in lokale Gemeinschaften und die Wirtschaft stärken?
Hameseder: Die Menschen verspüren mehr denn je ein Bedürfnis nach Regionalität, Nähe und Verlässlichkeit. Raiffeisens dreistufiger Aufbau garantiert diese Werte. Entscheidungen vor Ort, basierend auf lokalen Bedürfnissen, machen dabei den Unterschied. Damit wird auch die regionale Wertschöpfung gesichert und Arbeitsplätze geschaffen.

Was soll am Ende des Internationalen Jahres der Genossenschaften bleiben?
Hameseder: Wir wünschen uns eine gesteigerte Begeisterung für die Genossenschafts­idee: Mehr Menschen sollten Mitglied bei einer Genossenschaft werden. Die Menschen sollen das Bedürfnis verspüren bei Raiffeisen zu arbeiten oder sich ehrenamtlich zu engagieren. Ziel ist es, langfristig das Bewusstsein für die Relevanz von Genossenschaften zu stärken und öffentlich sichtbar zu machen. Das Jahr der Genossenschaften soll als Startpunkt für eine intensive Bewusstseinsbildung dienen, um die genossenschaftliche Idee nachhaltig zu verankern.  

AusgabeRZ1-2025

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