Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf das Corona-Jahr 2020 zurück?
Michael Blass: Es war für alle, ob in den Unternehmen, auf den Bauernhöfen oder in den Organisationen, ein absolutes Ausnahmejahr. Ein Jahr, in dem wir mit Themen konfrontiert waren und sind, auf die niemand vorbereitet war, auf die sich auch niemand vorbereiten konnte. Wir haben erlebt, wie schwierig es – gerade international – für die Politik ist, in solchen Situationen der Ungewissheit zu navigieren. Überall wurde in dieser Phase neues Wissen generiert und viel an Erfahrungsschätzen gehoben. So gestärkt dürfen wir zuversichtlich sein, dass wir klüger und resilienter, auch mit mehr Klarsicht in die Zukunft gehen.
Die Wertschätzung regionaler Lebensmittel ist in der Corona-Pandemie eindeutig gestiegen. Lässt sich dieses Bekenntnis der Konsumenten nachhaltig absichern?
Blass: Wir sind recht optimistisch, dass zumindest einiges davon bleiben wird. Wir erwarten etwa, dass Bio weiter Wind verspüren wird. Denn Bio ist schon bisher stark im Trend gelegen und hat durch die Pandemie einen weiteren Boost erfahren. Ähnliches gilt für regionale und bäuerliche Produkte, also Lebensmittel, zu denen Produzent und Konsument Nähe aufbauen können. Regionale Marken, gut vertraute Marken, das sind die Produkte, die faire Chancen haben, von der Sehnsucht der Konsumenten nach dem Echten und Ehrlichen zu profitieren.
Genau dort spielen auch die letztes Jahr neu aufgestellten AMA Genuss Regionen hinein.
Blass: Absolut, die AMA Genuss Regionen passen genau in diese Entwicklungen. Regionalität schafft Sympathie, schafft Vertrauen und gibt ein gutes Gefühl. Umso wichtiger ist es, dass bei Qualität und Kontrolle keine Kompromisse gemacht werden, um die Einhaltung der Produktversprechen abzusichern. Daher haben wir das Qualitäts- und Herkunftssicherungssystem QHS ins Leben gerufen, wo Qualitätsrichtlinien schlüssig und nach AMA-Standards kontrolliert werden.
Wie kann diese Wertschätzung der Produkte auch finanziell bei den Produzenten ankommen?
Blass: Den Konsumenten die alleinige Verantwortung für die Einkommenssituation der Landwirte zuzuweisen, ist zu eng gedacht. Es braucht den breiten Schulterschluss, den die AMA-Kampagne „Wir alle brauchen uns alle“ voriges Jahr in den Mittelpunkt gerückt hat. Es braucht die gemeinsame Überzeugung entlang der gesamten Wertschöpfungskette – vom Bauernhof über die Verarbeitung, den Lebensmittelgroß- und -einzelhandel und die Gastronomie bis hin zu den Konsumenten –, dass wir ein faires System der Bepreisung von landwirtschaftlichen Leistungen und Waren haben möchten. Dieses gemeinsame Bekenntnis existiert bisher leider nicht.
Woran liegt das?
Blass: Ein zentrales Problem ist die Sprachlosigkeit der Landwirtschaft. Die Landwirtschaft kommuniziert zwar, aber im Wesentlichen in einer Tonalität und mit Inhalten, die sich an ihre internen Communities richten. Der Dialog zwischen Landwirtschaft und Zivilgesellschaft, insbesondere mit kritischen Teilen der Zivilgesellschaft, hat enormes Verbesserungspotenzial. Dafür setzen wir uns in der AMA-Marketing mit großem Einsatz ein. Wir stellen den Anspruch, als Mittler der Botschaften zwischen Landwirtschaft und Konsumenten das Vertrauen beider Seiten zu rechtfertigen und dabei glaubwürdig zu bleiben. Dabei erleben wir auch, welche Klüfte noch existieren. Ein anderes Thema ist die völlig ungleiche Machtverteilung auf den Lebensmittelmärkten. Es ist nun einmal so, dass in Österreich im Lebensmitteleinzelhandel an die 90 Prozent des Volumens über vier Ketten abgewickelt werden. Diese wirtschaftliche Schieflage hat zu einschneidenden Verlusten der landwirtschaftlichen Deutungshoheit bei ihren ureigensten Themen geführt. Denn heute haben maßgeblich der Lebensmitteleinzelhandel und ihm nahestehende NGOs die Kommunikation an sich gezogen. Und die dabei gezeichneten kommunizierten Bilder haben hat mit dem wirklichen Wirtschaften auf unseren Bauernhöfen oft wenig zu tun, weil sie es idealisieren, romantisieren, verzerren. Im Vergleich dazu kann die reale Landwirtschaft immer nur enttäuschen. Um aus dieser No-win-Situation herauszukommen, müsste – und das ist unser Anliegen – die Landwirtschaft mit starker Stimme dagegenhalten, im Sinne einer gelingenden Diskussion in der Gesellschaft.
Würde der Dialog stattfinden, müssten Produkte auch mehr kosten. Wären die Konsumenten bereit, mehr für Lebensmittel zu bezahlen?
Blass: „Die“ Konsumenten gibt es nicht. Wichtig ist es in diesem Zusammenhang, dass wir unseren Blick auf die lenken, die mit jedem Cent kalkulieren müssen. Eine hegemoniale Attitüde, dass Lebensmittel generell zu billig seien, greift mit Sicherheit zu kurz. Wir sollten uns darüber freuen, dass wir nicht wie die Generationen vor uns bis zu 50 Prozent des frei verfügbaren Einkommens für Lebensmittel und Getränke aufwenden müssen. Dass Lebensmittel heute gut leistbar sind, ist die Folge von Effektivitäts- und Effizienzfortschritten in der Landwirtschaft ebenso wie in der Verarbeitung und von Leistungen des Lebensmittelhandels, die „alle Stückeln“ spielen. Das soll nicht das schlechte Gewissen bei den Konsumenten befeuern, sondern sichtbar machen, was von der Bauernschaft an Leistungen erbracht wird und dass die Gesamtleistung an Lebensmittelproduktion und Leistungen für die Gesellschaft über die Produktpreise besser abgebildet werden muss.
Was wird sich durch die bevorstehende Reform des AMA Gütesiegels verändern?
Blass: Das Gütesiegel ist permanent in Entwicklung. Es wird nicht nur einmal reformiert, sondern jedes Jahr mehrfach. Das bedeutet in der Praxis, dass unsere Güterichtlinien für einzelne Produkte laufend weiterentwickelt werden. Dieser Prozess ist partizipativ, alle, die mit dem Produkt zu tun haben, sind eingebunden. Aktuell geht es um die Frage des Tierwohls und die Verwendung von gentechnikfreien Futtermitteln. Die AMA-Marketing verfolgt die Entwicklungen sehr genau und bringt sich auch aktiv in diese Diskussionen ein, denn wir sind diejenigen, die für praktikable Umsetzungsmöglichkeiten sorgen müssen. Natürlich gilt es auch darauf zu achten, die Richtlinien so zu gestalten, dass unsere Teilnehmer der AMA treu bleiben. Denn niemand hätte etwas davon, wenn wir einen Goldstandard verwirklichen, es aber keine Programmteilnehmer mehr gibt, die diesen Standard erarbeiten. Dann sind die besten Vorsätze in Schönheit gestorben. Das kann nicht das Ziel sein. Ein Weg, der für die Bauern verkraftbar ist und für die Konsumenten Werte schafft, ist ein Balanceakt. Allen werden wir es dabei nie recht machen können, wir werden immer in der Kritik stehen.
Welche Auswirkungen hätte die Einführung eines Nährwertprofils, das Werbung für Lebensmittel mit hohem Fett-, Zucker- oder Salzgehalt verbietet?
Blass: Nährwertprofile sind ein Schritt in Richtung „Nanny-Staat“. Konsumenten werden bevormundet. Das muss nicht per se schlecht sein, wenn es zu einem guten Ergebnis führt und weniger dirigistische Maßnahmen nicht zur Verfügung stehen. Genau diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt und daher werden mit Nährwertprofilen schlicht und einfach die falschen Maßnahmen gesetzt. Natürlich ist Fettleibigkeit unter Kindern ein Problem, aber das wird nicht mit Werbeverboten gelöst. Denn genau diese Verbote hat sich die Wirtschaft schon vor Jahren als Selbstverpflichtung auferlegt. Es gibt keine Werbung für solche Produkte im Umfeld von TV-Kindersendungen oder in den sozialen Medien. Wäre das die Lösung, würde dieses Problem beherrscht. Also sollte man schon ein bisschen weiter denken.
Welche Lehren für die Zukunft haben Sie aus dem letzten Jahr gezogen?
Blass: Geht es um den Blick nach vorne, zitiere ich gerne den früheren Bischof Kapellari mit seinem Terminus von der „unerschrockenen Vorsicht“. Der Begriff signalisiert Mut und Optimismus, andererseits auch das Nachdenken und Abwägen. Das zurückliegende Jahr hat uns gelehrt, worauf es wirklich ankommt. Wir haben gesehen, dass die Landund Lebensmittelwirtschaft das starke Rückgrat unserer Volkswirtschaft sind. Gestärkt mit diesen unmittelbaren Erfolgen halte ich es für umso mehr angebracht, dass die Landwirtschaft gerade jetzt ihre Stimme erhebt und sich stärker in der Mitte der Gesellschaft positioniert. Ziel ist es, stärker wahrgenommen zu werden und als Landwirtschaft die eigene Geschichte selbst zu erzählen und das nicht anderen zu überlassen.