„Die Welt ist aus den Fugen geraten“ – zu diesem Schluss kommt des Risikobild 2024 des Verteidigungsministeriums in der aktuellen Bewertung der außenpolitischen Sicherheitslage. Verteidigungsministerin Klaudia Tanner betonte beim traditionellen sicherheitspolitischen Jahresauftakt im Raiffeisenhaus in Wien die Einleitung „einer Zeitenwende im österreichischen Bundesheer“.
Angesichts der immer häufigeren und drastischen Krisenherde müsse man so rasch wie möglich in die Modernisierung und Ausrüstung des Bundesheeres investieren. In den nächsten vier Jahren sind dafür rund 18 Mrd. Euro vorgesehen. Dazu brauche man auch „das Verständnis der Wirtschaft“. Es gehe aber nicht nur um Österreich, man müsse auf europäischer Ebene den Bedrohungen gemeinsam begegnen und die europäischen Verteidigungskompetenzen erweitern. In Österreich gelte es, die umfassende Landesverteidigung mit Leben zu erfüllen, fordert die Ministerin. Auch wenn Österreich militärisch neutral sei, könne es nicht gleichgültig sein, „wenn Völkerrecht verletzt wird und Staatsgrenzen außer Kraft gesetzt werden“.
Grundversorgung zurückholen
Hausherr Erwin Hameseder, Milizbeauftragter des Bundesheeres, Generalmajor und Generalanwalt des Österreichischen Raiffeisenverbandes (ÖRV), konstatierte, dass die internationalen Krisenherde im vergangenen Jahr signifikant zugenommen haben. Die Folgen seien weitreichend und drastisch. In insgesamt 91 Ländern der Welt finden aktuell grenzüberschreitende Konflikte statt. Der Krieg bedeute vor allem eine humanitäre Katastrophe und enormes Leid, habe aber auch massive Folgen für die Weltwirtschaft. Der russische Krieg gegen die Ukraine gehe bald ins dritte Jahr und sorge nach wie vor für dramatische wirtschaftliche Verwerfungen, warnte Hameseder etwa mit Blick auf die Versorgung mit Rohstoffen.
Die Globalisierung sei zu einem beachtlichen Sicherheitsrisiko geworden. „Wir müssen die Abhängigkeiten reduzieren und mehr Resilienz generieren. Europa und Österreich müssen bestrebt sein, wieder mehr primäre Wertschöpfung und damit Grundversorgung zurückzuholen“, betonte Hameseder. Mit Blick auf die Weltbühne betonte der Milizbeauftragte, dass Europa militärisch zu einem Faktor werden muss. Denn: „Wenn uns das nicht gelingt, wird es sehr schwierig sein, unsere Werteinteressen und das Wirtschaftswachstum in der EU abzusichern.“
Krieg als politische Dimension
Generalmajor Peter Vorhofer, Leiter der Direktion Verteidigungspolitik und Internationale Beziehungen im Verteidigungsministerium, betonte, dass eine Umstrukturierung der Weltordnung im Gange sei, für die man zumindest zwei Dekaden brauche werde. „Der Krieg ist als Dimension der Politik zurück. Es werden die militärischen und bewaffneten Konflikte mehr werden. Wir befinden uns in einer globalen Aufrüstung“, umriss Vorhofer die aktuelle geopolitische Entwicklung. So würden neue Mächte auf der Welt „mit sehr, sehr viel Selbstvertrauen ihre Interessen auch kriegerisch umsetzen wollen“. Österreich müsse grundsätzlich mit immer mehr Auswirkungen dieser Konflikte rechnen.
Zu den gefährlichsten Bedrohungen für Österreich zählt der Generalmajor unter anderem eine mögliche Eskalation der Konfrontation Russlands mit der Europäischen Union. „Die Konfliktlinien liegen sehr, sehr nahe beieinander. Wir werden 2024 mit einer großen Wahrscheinlichkeit eine starke hybride Kriegsführung erleben“, warnt Vorhofer. Die Informationstechnologie sei Teil des Lebens geworden und damit auch ein lohnendes Ziel in Konflikten. Zu den besonders relevanten Risiken zählt der Generalmajor auch Störungen von Lieferketten durch Konflikte, die Auswirkungen von Migrationsströmen, Cyberangriffe sowie Desinformationskampagnen, deren Ausbleiben im aktuellen Superwahljahr „extrem ungewöhnlich“ wäre.
Die Folgen davon seien bereits für viele spür- oder wahrnehmbar. So würde die lange geltende Grundsatzaussage, wenn man sich verflechte, friedlich zueinander sei, aktuell wesentlich unterminiert. Die Abschreckung ist in der Weltpolitik wieder zurückgekehrt und „Frieden wird mit Nicht-Krieg definiert“. Seine Schlussfolgerungen aus dieser verstörenden Entwicklung seien: „Vorbereitung, Vorbereitung und Vorbereitung!“
Wertesystem zerbricht
Auch Günter Bruno Hofbauer, stellvertretender Generalstabschef und Chefplaner des Bundesheeres, sieht große Anstrengungen auf Österreich zukommen, um das Bundesheer „wieder kriegsfähig“ zu machen. Es sei ein massiver Unterschied, Streitkräfte auf Stabilisierungseinsätze oder auf Kriegseinsätze vorzubereiten. Man sei in einer Phase, in der das allgemeine Wertesystem am Zerbrechen sei und es „noch nicht Krieg, aber auch nicht reiner Frieden sei“.
Europa habe in den letzten 25 Jahren aufgehört, sich auf den Krieg vorzubereiten. Das sei in anderen Weltregionen anders. Man sollte in der Beurteilung der Lage schärfer werden, fordert Hofbauer. „Wir lassen uns verführen von dem, dass wir vielleicht keine politischen Absichten erkennen. Wir haben aber vergessen, die Potenziale zu beurteilen. Und die Potenziale sind langfristig aufgebaut und sind langfristig vorhanden. Politische Absichten, Potenziale einzusetzen, können sich kurzfristig ändern“, warnt Hofbauer.
Ausblick auf Krisenherde
Vier weitere Experten streiften in ihren Statements die Entwicklung regionaler Krisenherde. Russland-Experte Gerhard Mangott sieht Russland im Krieg gegen die Ukraine auf dem längeren Ast sitzen, zumal Russland dreimal so viel Einwohner wie die Ukraine habe. Die ukrainische Offensive im Vorjahr habe an der Frontlinie kaum etwas geändert, einen neuerlichen Anlauf könnte die Ukraine seiner Ansicht nach 2025 versuchen. Eine wesentliche Frage für die Ukraine werde sein, wie es mit der Finanz- und Militärhilfe aussehen werde. Ganz essenziell werde die US-Wahl sein, die Kriegsmüdigkeit vor allem im Westen dürfte weiter steigen, so Mangott.
Günther Barnet, Spitzenbeamter im Verteidigungsministerium, bezeichnete im Nahen Osten als die entscheidende Frage, ob es zu einem Flächenbrand kommen werde, wobei vor allem die Situation in Jordanien beachtet werden müsse. Sollte das Land destabilisiert werden, könnte der Iran über eine Landverbindung Waffen ins Westjordanland schmuggeln, wo Palästinenser und Israelis „Tür an Tür“ wohnten.
Keine positive Zukunft für die jeweiligen Konfliktregionen Afrika und Westbalkan sahen die beiden Expertinnen Antonia Witt und Marie-Janine Calic. Letztere sagte aber immerhin, dass sie eine Kriegsgefahr im Dreieck „Serbien-Bosnien-Kosovo“ als gering einschätze, weil sich die EU-Beitrittsperspektive diesbezüglich als stabilisierend auswirke. Der serbische Präsident Aleksandar Vucic werde sich nämlich, „wenn es hart auf hart geht“, für die EU-Perspektive entscheiden, so Calic. Wie das in ein paar Jahren aussehen werde, stehe auf einem anderen Blatt. Eine immens wichtige Funktion haben die Friedenstruppen vor Ort in der Region – im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina. Der EU rät die deutsche Balkanexpertin, „da, wo man Einfluss hat, auch Einfluss auszuüben und Einigkeit in der EU herzustellen“.