Im Sport und in der Wirtschaft gilt die goldene Regel, dass man gerade im Erfolgsfall die größten Fehler macht. Sich im Glanz von Siegen zu sonnen, kann träge machen und den Blick auf notwendige Veränderungen trüben. Genau das will Andreas Schicker, seit Mai 2020 Sportchef von Sturm Graz, verhindern: „Ich denke, dass eine Mannschaft gerade im Erfolgsfall – und den hatten wir in den letzten zweieinhalb Jahren – Veränderungen braucht. Auch wenn es gerade dann schwer ist, Entscheidungen zu treffen, die man von außen nicht auf den ersten Blick nachvollziehen kann.“ Nachsatz mit Nachdruck: „Aber genau das ist unsere Aufgabe.“
Der 36-Jährige ließ in der zu Ende gehenden Winterpause, mit 88 Tagen die zweitlängste der Liga-Geschichte, Taten folgen. Noch vor Weihnachten teilte er seinem Torhüter mit, den am Ende der Saison auslaufenden Vertrag nicht zu verlängern. Was wie ein ganz normaler Vorgang im Profi-Business klingt, ist im konkreten Fall ein durchaus bemerkenswerter Zug. Denn Jörg Siebenhandl hütet seit 2017 den Kasten der Grazer und ließ sich in mehr als 220 Spielen, national wie international, kaum etwas zu Schulden kommen. Und trotzdem beschlich die Verantwortlichen das Gefühl, auf der wahrscheinlich heikelsten aller Position ein Update machen zu müssen. „Menschlich eine ganz schwierige Geschichte“, gibt Schicker zu. „Aber wir wollten ein anderes Profil für unseren Keeper haben. Ob es die richtige Entscheidung war, weiß man im Fußball aber immer erst im Nachhinein.“
Also wurde mit Arthur Okonkwo ein Torwart mit dem Gardemaß von 1,98 Meter (15 Zentimeter größer als Siebenhandl) von Arsenal London verpflichtet. Er soll in den Rückrunden das Trikot mit der Nummer 1 und dem Giebelkreuz auf der Hose tragen – eines der äußerlichen Zeichen der mehr als 40 Jahre bestehenden Partnerschaft mit der Raiffeisen-Landesbank Steiermark. „Wir sind froh, einen qualitativ hochwertigen Tormann bekommen zu haben, der auch bei Arsenal intern sehr hoch gerankt wird“, frohlockt Schicker über das Leihgeschäft bis Sommer, das nur der Anfang einer längeren Episode sein soll. „Wir haben Zeichen bekommen, dass es auch darüber hinaus gehen kann.“
Millionen-Rendite
Fakt ist: Schicker hat sich in seinen zweieinhalb Jahren in Graz den Ruf erarbeitet, öfter als andere auf die richtigen Knöpfe zu drücken. Hätte ein solcher Wechsel in anderen Vereinen wochenlange Diskussionen nach sich gezogen, genießt der gebürtige Steirer aus Bruck an der Mur einen Vertrauensvorschuss. Kein Wunder, haben seine Deals dem Klub nicht nur sportlich, sondern auch wirtschaftlich große Dienste erwiesen. Er war es, der Kelvin Yeboah im Februar 2021 für 1,2 Millionen Euro holte und nicht mal ein Jahr später für mehr als das Fünffache an Sampdoria Genua verkaufte. Noch spektakulärer verlief das Geschäft mit Rasmus Höjlund. Für 1,8 Mio. vom FC Kopenhagen geholt, für 17 Mio. ein halbes Jahr darauf an Atalanta Bergamo weitergegeben. Solche Renditen sorgen für Staunen und Respekt in der Branche.
Doch auch wenn Abgänge solcher Spieler sportliche Lücken reißen – Sturm steht auch in dieser Saison sportlich wieder hervorragend da. 33 Punkte wurden in den bisher absolvierten 16 Runden des Grunddurchgangs geholt, das sind nur sechs weniger als Serienmeister Red Bull Salzburg. Da nach 22 Spieltagen die Punkte halbiert werden, könnte das Meisterschaftsrennen heuer so spannend werden wie schon lange nicht mehr. Sind die Grazer also gar ein Anwärter auf den Titel? Es wäre der erste für den Klub seit 2011 und der vierte in der Vereinsgeschichte. So offensiv Schicker auf dem Transfermarkt agiert, so sehr tritt er bei dieser Frage auf die Bremse. „Von mir wird es ganz bestimmt keine markante Kampfansage geben“, sagt er. Und fragt rhetorisch: „Warum auch? Ich habe doch nichts davon, wenn wir uns jetzt weit aus dem Fenster lehnen. Wir sind gut beraten, uns auf uns und unsere Leistungen zu konzentrieren. Was am Ende dabei herauskommt, wird man sehen.“
Gelassenheit, die typisch ist für den Grazer Macher. Und die ihren Ursprung auch in einem Unfall hat, der dem Ex-Profi (u.a. Austria Wien, SV Ried) widerfuhr. Im November 2014 explodierte ein Böller in seiner Hand, die daraufhin amputiert werden musste. Seitdem trägt er eine Prothese. „Natürlich hat mich dieser Unfall geduldiger gemacht“, sagt er.
Überholte Pläne
Wobei: Geduld scheint nicht gerade sein hervorstechendstes Markenzeichen zu sein. Den Drei-Jahresplan, den er zu Beginn seiner Amtszeit präsentierte, hat er längst überholt, wovon nicht zuletzt die Auftritte in der Europa League gegen Klubs wie Real Sociedad San Sebastian oder Lazio Rom in den vergangenen zwei Saisonen zeugen. Er holte gestandene Spieler wie Jon Gorenc Stankovic oder Gergory Wüthrich, die längst zu tragenden Säulen wurden und verpflichtete Youngster wie Alex Prass, der einer der nächsten Spieler sein dürfte, der für einen warmen Geldregen in der Kasse sorgt.
Seine wichtigste Verpflichtung aber dürfte die von Christian Ilzer auf der Trainerbank gewesen sein. Bei Austria Wien gescheitert, holte er den Coach als eine seiner ersten Amtshandlungen als Nachfolger des glücklosen Nestor El Maestro. Und obwohl bereits Vereine aus großen Ligen wie Deutschland ihre Fühler nach dem Trainer ausstreckten, verlängerte Schicker erst kürzlich den Vertrag bis 2025. Das bedeutet zwar nicht, dass er ihm bis dahin erhalten bleibt. Sollte es aber zu einer Abwerbung kommen, wird eine üppige Ablösesumme fällig.
Doch das ist Zukunftsmusik. Jetzt geht es erst einmal darum, gut in die Frühjahrs-Saison zu starten. Da ist der Auftakt mit dem Heimspiel gegen Rapid gleich eine richtige Standortbestimmung. Um dafür gut gerüstet zu sein, wurde nicht nur ein Tormann, sondern auch ein Stürmer verpflichtet. Bryan Teixeira kommt von Aufsteiger Austria Lustenau und hat mit sechs Toren und genauso vielen Assists bewiesen, einer der besten Scorer der Liga zu sein. „Der erste Eindruck von ihm ist top“, schwärmt Schicker. „Ein offener Typ, der gut angenommen wurde und schnell bei uns angekommen ist. Ich bin gespannt, wie schnell er unsere Prinzipien mit und gegen den Ball annimmt.“ Wer den Weg von Sturm Graz in den letzten Jahren verfolgt hat, wird kaum einen Zweifel daran hegen, dass auch dieser Transfer funktioniert.