Vietnam: Wo Mopeds knattern und Lampions leuchten

Seine Kriegsvergangenheit prägt das Image Vietnams bis heute. Dabei hat das Land am Mekong viel mehr zu bieten und steckt für Reisende voller Überraschungen – klimatisch, kulturell wie kulinarisch.

In der Luft liegt ein leicht süßlicher Geruch, gepaart mit der stechenden Note von Abgasen. Ein nicht enden wollendes Hupkonzert dröhnt. Um einen herum schlängelt sich ein Moped nach dem anderen. Man fühlt sich mehr wie in einem riesigen Ameisenhaufen als auf einer geregelten Verkehrsstraße. Gehsteige gibt es nicht – und wenn doch, sind sie durch Mopeds oder Streetfood-Stände verstellt. Man muss also notgedrungen auf die Fahrbahn runtersteigen und sich inmitten des Zweirad-Gewusels begeben, wenn man in Hanoi zu Fuß vorankommen will.

Es ist der erste kleine Kulturschock, wenn man zum ersten Mal nach Vietnam oder überhaupt nach Südostasien kommt. Der zweite stellt sich kurze Zeit später mit der Erkenntnis ein: Das scheinbare Chaos funktioniert. Obwohl Vorrangregeln und Co. von den Vietnamesen eher nachrangig behandelt werden, fließt der Verkehr kollisionsfrei. Und das bei sechs Millionen Mopeds auf fast 9 Millionen Einwohner in der Hauptstadt Vietnams. Aufgrund der Abgase waren FFP2-Masken schon vor Corona gang und gäbe. Gehupt wird nicht vor Wut, sondern um auf sich aufmerksam zu machen. Eine rücksichtsvolle Einstellung, die in Europa ihresgleichen sucht.

Kommunistische Identität

Hanoi ist die zweitgrößte Stadt des Landes und die älteste Hauptstadt Südostasiens. Auch, oder gerade weil man ihr das Alter ansieht, versprüht die Metropole ihren eigenen Charme. Der Ngoc-Son-Tempel ist vor allem abends sehenswert, wenn man die dann rot leuchtende Brücke auf eine kleine Insel überquert und die Stadtkulisse im Spiegelbild des Hoan-Kiem-Sees glitzert. Im Kontrast dazu wird beim Mausoleum von Staatsgründer Ho Chi Minh die nach wie vor kommunistische Identität Vietnams deutlich: Auf der breiten Plaza vor dem Monument beobachten wir die Wachablöse der Soldaten, während ein Offizier streng darauf achtet, dass keiner der Schaulustigen die Begrenzungslinie übertritt – was beim konzentrierten Blick durch die Kamera schon einmal vorkommen kann.

Das Mausoleum von Ho Chi Minh in Saigon wird von Soldaten mit strengem Blick bewacht.
Das Mausoleum von Ho Chi Minh in Saigon wird von Soldaten mit strengem Blick bewacht. © Michael Hintermüller

Einen Schritt zurück zu machen, ist auf der berühmten Train Street umso ratsamer. Nahe dem Hauptbahnhof führt ein Eisenbahnabschnitt auf engstem Raum durch zwei Häuserfronten. Einheimische wie Touristen säumen die Gleise wie einen Fußweg oder sitzen in einem der vielen Lokale entlang der Strecke. Das Spektakel kündigt sich unscheinbar an: Die Schranken an der querenden Hauptstraße senken sich und die Geräuschkulisse wird durch ein leises Brummen untermalt, das immer lauter wird. Mit einer routinierten Hektik treiben die Ladenbesitzer die auf ein Selfie lauernden Touristen beiseite und stellen Tische und Stühle so nah wie möglich an die Hauswände. Das Horn ertönt, dann biegt die Lok ins Sichtfeld ein und bahnt sich ihren Weg durch die Train Street. Die Waggone rauschen nur wenige Zentimeter entfernt vorbei. Würde man die Hand ausstrecken, könnte man sie berühren.

Abends treibt uns der Hunger in eine der vielen Garküchen – authentischer kann man die Kulinarik von Vietnam kaum kennenlernen. Inmitten von Einheimischen auf winzigen Sesselchen gibt’s schmackhafte Pho (Pho ga mit Huhn oder Pho bo mit Rind), die traditionelle vietnamesische Suppe. Dass man der Köchin im Vorbeigehen über die Schulter schauen kann, wie sie das Fleisch zerteilt, lässt keinen Zweifel an der frischen Zubereitung.

Legenden und glitzernde Perlen

Ebenfalls im Norden, etwas mehr als zwei Stunden von Hanoi entfernt, erwartet uns die Halong-Bucht. Etwa 200 Boote bringen die Urlaubermassen zu den exakt 1.969 Kalkinseln, die aus dem Golf von Tonkin ragen – täglich. Wir besteigen eines davon, die Cong Nghia 88. Unsere Bootsführerin Melina erzählt mit unüberhörbarem Stolz, dass ihre Familie mittlerweile fünf dieser Schiffe besitzt – jenes, auf dem wir sitzen, wurde erst letztes Jahr fertiggestellt. Ihr Bruder sitzt am Steuer, während wir bei kaum Seegang durch das trübe Gewässer schippern und Melina ein köstliches Menü serviert.

Die Halong-Bucht weiß auch ohne Sonne zu beeindrucken.
Die Halong-Bucht weiß auch ohne Sonne zu beeindrucken. © Michael Hintermüller

Auch wenn die Sonne uns an diesem Märztag im Stich lässt, ist klar, warum die Halong-Bucht seit 1994 Weltkulturerbe ist: Ihr wohnt eine ganz eigene zauberhafte Mystik inne, wenn sich die grün bewachsenen Felsen langsam immer stärker durch die Nebelschichten abzeichnen. Dazu passt auch die Legende, wonach ein Drache (Long) einst mit seinem Schwanz die Landschaft zertrümmert und danach ins Meer abgetaucht (Ha) ist, wobei die entstandenen Gräben geflutet wurden. Es ist aber nicht nur das Panorama, das die Halong-Bucht zum Besuchermagnet macht. Die gewaltigen Dau-Go- und Thien-Cung-Höhlen voller Stalagmiten und Stalaktiten sind nicht minder beeindruckend. 

In diesem Teil des Landes ist die Perlenzucht noch ein lukratives Gewerbe. Junge Vietnamesinnen pflanzen kleine Stücke Perlmutt in Zuchtmuscheln ein, ehe sie wieder ins Wasser gebracht werden. Ob der Prozess funktioniert hat – die Erfolgschance steht nur bei 40 Prozent –, sieht man erst nach mehreren Jahren. Die geernteten Perlen werden dann im Showroom nebenan in Form von Schmuck und Accessoires feilgeboten. Der Perlenhandel steht sinnbildlich für den Widerspruch zwischen dem offiziell kommunistischen Vietnam und dem vielerorts gelebten Unternehmertum, das sich längst an marktwirtschaftlichen Prinzipien orientiert.

Abenteuer-Atmosphäre

Von Hanoi geht es weiter nach Hue, der alten Kaiserstadt, im 19. Jahrhundert Sitz der Nguyen-Dynastie. Von dieser Blütezeit zeugt noch heute die kaiserliche Zitadelle – ebenfalls ein UNESCO-Weltkulturerbe. Ein mächtiges Bauwerk: 50.000 Arbeiter wurden eingesetzt, die Fertigstellung der 520 Hektar großen Festung brauchte 27 Jahre. Das feucht-neblige Wetter trägt auch in Hue zur Atmosphäre bei; insbesondere an den Grabmälern der Kaiser Tu Duc und Khai Dinh kommt inmitten steinerner Soldaten und alter Tempel „Tomb Raider“-Stimmung auf.

Kaiserlichen Zitadelle in Hue
Kaiserlichen Zitadelle in Hue © Michael Hintermüller

Erst mit der Fahrt über den Wolkenpass auf 496 Meter Höhe lassen wir selbige endlich hinter uns – und Vietnam zeigt in der Gegend von Da Nang und Hoi An plötzlich ein ganz anderes Gesicht. Die Sonne erstrahlt und taucht die Marmorberge abends in ein leuchtendes Gelb. Beim Besuch des nächsten Weltkulturerbes, der Tempelstadt My Son, kommen wir untertags bei tropischen Temperaturen jenseits der 30 Grad ordentlich ins Schwitzen. Die Erkundung der rund 70 Tempel inmitten der Dschungellandschaft, Relikte der Cham-Kultur aus dem 2. oder 3. Jahrhundert, ist es allemal wert.

Das sunnitisch-muslimische Reisbauernvolk der Cham hat einst auch Hoi An gegründet. Heute hebt sich die Küstenstadt durch ihre zahlreichen Maßschneidereien von den in Vietnam weit verbreiteten Märkten mit Fake-Markenkleidung ab. Neben Sehenswürdigkeiten wie der 400 Jahre alten Japanischen Brücke und seiner verwinkelten Altstadt muss man Hoi An aber vor allem wegen seiner Laternen gesehen haben: Unzählige bunte Lampions schmücken nicht nur die Straßen, sondern auch die Boote am Fluss Thu Bon – nach Einbruch der Dunkelheit ein spektakulärer Anblick, der den Genuss eines Drinks am Kanal zusätzlich versüßt.

Boote in der Nacht mit Lampions geschmückt
© Michael Hintermüller

Stichwort süßer Drink: Vietnam hat eine ausgeprägte Kaffeekultur und ist zweitgrößter Exporteur nach Brasilien, noch vor Kolumbien. Neben Arabica wird in Vietnam vor allem die herbere Sorte Robusta angebaut, die vorwiegend zu Instant Coffee verarbeitet wird. Traditionell wird Kaffee hier deshalb auch mit Kondensmilch als Gegenwicht zu den bitteren Röst­aromen serviert. Das picksüße Resultat ist nicht jedermanns Sache, aber eine Kostprobe wert – ebenso wie vietnamesischer Eierkaffee, bei dem noch eine cremige Schaumkrone aus Eigelb oben draufkommt. 

Ansonsten hat Vietnam für den süßen Gaumen eher wenig zu bieten; mit Pho und Co. ist die vietnamesische Küche herzhaft und zugleich leicht: Von Bun Cha (gegrilltem Schwein mit Reisnudeln, Kräutern und Fischsauce) bis hin zu Goi Cuon (Sommerrollen aus Reispapier mit verschiedenen Füllungen). Am deftigsten ist noch Banh Mi, ein mit Fleisch, Kräutern und Gemüse in den verschiedensten Variationen gefülltes Sandwich. Als Brot wird Baguette verwendet – ein Relikt aus jener Zeit, als Vietnam noch Indochina hieß. 

Eine Frau macht inmitten von traditionellen Kegelhüten
© Michael Hintermüller

Die französische Kolonialzeit ist in Ho-Chi-Minh-Stadt noch besonders spürbar. So heißt die Hauptstadt seit 1976 offiziell, wird aber nur von Touristen so genannt. Für Einheimische ist es nach wie vor Saigon. Französische Architektur prägt mit Prachtbauten wie dem Alten Rathaus, der Oper oder der Kathedrale Notre Dame das Stadtbild, das Hauptpostamt wurde von Gustave Eiffel entworfen. Unübersehbar ist aber auch der amerikanische Einfluss, im positiven wie negativen Sinn. Verspiegelte Wolkenkratzer, gigantische Reklametafeln bekannter Marken – Saigon wirkt im Gegensatz zu Hanoi viel mehr wie eine blühende moderne Metropole. 

Vergangenheit und Zukunft

Vietnams dunkle Vergangenheit offenbart die Stadt im Kriegsrelikte-Museum, das mit Darstellungen von Folter und Massakern teilweise wirklich nichts für schwache Nerven ist. Neben Panzer, Kampfflugzeugen und Waffen wird hier mit schonungslosen Bildern und detaillierten Erzählungen an die Gräuel des Vietnamkriegs erinnert – sowohl von Seiten der USA, als auch durch das südvietnamesische Regime an den eigenen Landsleuten. Obwohl dieses leidvolle Kapitel auch 50 Jahre danach noch am Image Vietnams haftet, hat vor allem die jüngere Generation – die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 33 Jahre – den Krieg hinter sich gelassen.

Flussfahrt auf dem Mekong
© Michael Hintermüller

Zum Abschluss unserer Reise lassen wir Saigon hinter uns. Es geht ins Umland, genauer gesagt ins Mekong-Delta. Das Flussgebiet ist die Reiskammer und Exportader des Landes: In drei Ernten pro Jahr werden 21 Mio. Tonnen gewonnen, mehr als die Hälfte der gesamten Reisproduktion. 60 Prozent gehen in den Export. Wie ganz Vietnam steckt auch der Mekong voller Überraschungen: Ein Schnellboot bringt uns zur Ziegelbrennerei-Besichtigung, während wir Kokoswasser direkt aus der Nuss schlürfen und die sanfte Brise genießen. Beim Weg zum nächsten Stopp ist dagegen Festhalten angesagt, derart rasant ist der Ritt auf dem winzigen Tuk-Tuk über den schmalen Dschungelpfad zur nächsten Anlegestelle. Dort warten schon kleine Ruderboote. Noch einmal tauchen wir in eine andere Welt ein, als wir auf den wackligen Kähnen lautlos durch die von Mangroven und Kokospalmen fast zugewachsenen Wasserwege gleiten. Ein Non la, der traditionelle Kegelhut aus Reisstroh, darf dabei nicht fehlen.

AusgabeRZ21-2025

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