Zweigeteilte EU-Bilanz

Nach 30 Jahren EU-Mitgliedschaft zieht Raiffeisen Research eine insgesamt positive Bilanz. Allerdings performte die Wirtschaft in der ersten Hälfte der Mitgliedschaft viel besser.

Vor 30 Jahren ist Österreich nach knapp zweijährigen Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union beigetreten. Dieser historische Schritt öffnete insbesondere der österreichischen Wirtschaft neue Möglichkeiten. „Durch unseren Beitritt zur EU im Jahr 1995 konnten wir durchschnittlich ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von etwa 0,7 Prozentpunkten pro Jahr generieren. Zudem sind aktuell rund 600.000 Menschen aus anderen EU-Mitgliedstaaten am österreichischen Arbeitsmarkt tätig – mit Blick auf den hohen Bedarf an Arbeitskräften ein immens wichtiger Faktor. Die Zahl dieser unselbstständig Beschäftigten ist seit 2014 um rund 84,5 Prozent gestiegen. Das verdeutlicht, dass die EU-Mitgliedschaft für Österreich ein echter Gewinn ist – sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich“, erklärt Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Kocher. 

Erfolgreiche 15 Jahre

Eine zweigeteilte Wirtschaftsbilanz über die bisherige EU-Mitgliedschaft ziehen die Experten von Raiffeisen Research: „In Summe sind die 30 Jahre Österreichs im EU-Binnenmarkt und Euroraum (26 Jahre – der Euro wurde als Buchgeld 1999 eingeführt, Anm.) eine Erfolgsgeschichte. Allerdings: Die ersten 15 Jahre waren erfolgreicher als die letzten 15 Jahre.“

Diese Zweiteilung sei auch ein Ausdruck des Auslaufens „einfacher“ Integrationsvorteile sowie des Osteuropa-Booms. Verschärft wurde die wirtschaftliche Situation zuletzt durch die erodierende Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts, betonen Raiffeisen-Chefökonom Gunter Deuber, Leiter von Raiffeisen Research, und Raiffeisen-Research-Analyst Matthias Reith.

„Nachhaltig solides Wachstum“

Der Zuwachs an Wirtschaftsleistung in Österreich lag in den Jahren 1995 bis 2009 mit etwa 0,2 bis 0,25 Prozentpunkten pro Jahr über dem Euroraum. In diesem Zeitraum ist auch das Pro-Kopf-Einkommen Österreichs von 123 Prozent des Euroraums auf 128 Prozent angestiegen. Rechnet man plausible Vorzieheffekte des EU-Beitritts mit ein, ergibt sich sogar noch ein leicht höheres positives Wachstumsdifferenzial von fast 0,3 Prozentpunkten.

Der wirtschaftliche Nutzen Österreichs aus der EU-Mitgliedschaft lässt sich auch am Anteil des Bruttoinlandsprodukts (BIP) an der EU-14 (EU-15 ohne Großbritannien) festmachen, der nach einem ersten Absinken in den späten 1990er-Jahren kontinuierlich und leicht gestiegen bzw. dann konstant geblieben ist. „Dies spricht für ein nachhaltig solides Wirtschaftswachstum gegenüber Vergleichsländern und ist umso beachtlicher, da Österreich ja keine ,klassische’ Konvergenzökonomie ist wie etwa die EU-Mitglieder in Südeuropa mit unterdurchschnittlichen Wohlstandsniveaus“, halten die beiden Raiffeisen-Experten fest.

Das BIP-Gewicht Österreichs im Euroraum stieg vor allem in den frühen 2000er-Jahren bzw. ab 2004/05 stark an. Dies habe unverkennbar mit dem damaligen Wirtschaftsboom in den prospektiven und neuen EU-Mitgliedern in Zentral- und Südosteuropa (CEE) zu tun, heißt es in der Analyse. „Ohne die EU-Mitgliedschaft hätte Österreich nicht so ,einfach’ am damaligen Osteuropa-Boom teilhaben können“, sind die beiden Autoren überzeugt. Insofern überrasche es nicht, dass von 1995 bis 2009 die stärkste Phase des wirtschaftlichen Besserabschneidens in Österreich als neues EU-Mitglied war.

Vorsprung eingebüßt

Seit dem Jahr 2010 habe sich die Wachstums-Outperformance Österreichs im EU-Binnenmarkt allerdings verringert. Österreich wuchs im Schnitt um knapp 0,2 Prozentpunkte langsamer als die Eurozone. Das liegt auch, aber nicht nur an der aktuellen Rezession in Österreich. Bereits in den gut zehn Jahren davor hatte Österreich seinen Wachstumsvorsprung eingebüßt. „Die konjunkturell enttäuschenden Jahre 2023 und 2024 eingerechnet ergibt sich in diesem Zeitraum sogar im Schnitt ein leicht schwächeres BIP-Wachstum als im Euroraum (-0,17 Prozent)“, zeigt die Analyse. Denn von 2011 bis 2022 steht nur ein leicht positives Wachstumsdifferenzial von 0,03 Prozentpunkten pro Jahr zu Buche.

Auch das Pro-Kopf-Einkommen Österreichs in Relation zum Euroraum hat von 2009 bis 2014 mit ca. 128 bis 131 Prozent seinen Höhepunkt erreicht. Seitdem ist das relative Pro-Kopf-Einkommen kontinuierlich und graduell gesunken. Dieser Wert liegt aktuell (2023/24) mit 120 bis 122 Prozent sogar leicht unter jenem des EU-Beitritts von 123 Prozent. Das Pro-Kopf-Einkommen bildet aber nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die demografische Entwicklung ab. „Hier hat es Österreich in den letzten Jahren offenbar nicht geschafft, eine optimale Kombination zwischen Bevölkerungswachstum vor allem durch Zuzug und der wirtschaftlichen Entwicklung zu wahren“, heißt es.

Nötiger Zuzug

Dennoch wirkte der EU-Beitritt Österreichs insgesamt als Wohlstands- und Jobmotor. Die Beschäftigung stieg seit 1994/95 von rund 3,7 Millionen auf 4,5 Millionen Erwerbstätige (2023). Zuletzt gab es fast ein Viertel Arbeitnehmer mehr in Österreich als vor dem Beitritt, während die Bevölkerung in Summe um weniger als 20 Prozent zunahm. Dennoch halten Deuber und Reith fest, dass „in einigen Wirtschaftsbereichen der Betrieb bzw. die Produktion ohne einen substanziellen Ausländeranteil kaum zu halten wäre“.

Die relative Attraktivität des Wirtschaftsstandortes sorgte lange Zeit für einen produktiven Zuzug in den Arbeitsmarkt. Insofern hat sich der Anteil von Arbeitnehmern mit nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft von 9 Prozent im Jahr 1994 auf 20 Prozent im Jahr 2023 mehr als verdoppelt. Ohne diesen Zuzug wären die aktuell erkennbaren strukturellen Arbeitsmarktprobleme hierzulande noch eklatanter bzw. wäre die positive wirtschaftliche Performance der letzten Dekaden kaum möglich gewesen. 

Aktienmarkt hinkt hinterher 

Während die Realwirtschaft vom EU-Beitritt profitierte, fehlt eine vergleichbare Erfolgsstory am Kapitalmarkt, streichen Deuber und Reith hervor. Mit einer Marktkapitalisierung von knapp über 20 Prozent der Wirtschaftsleistung liegt Österreich aktuell nicht einmal im europäischen Mittelfeld und auch weit hinter Deutschland. Zum Vergleich: Die Aktienmarktkapitalisierung in Österreich betrug vor dem EU-Beitritt in den 1990er-Jahren rund 15 Prozent der Wirtschaftsleistung. Annähernd hohe Werte wie in Deutschland von 60 Prozent wurden an der Wiener Börse nur 2007 erreicht – damals im Zusammenhang mit der „Osteuropabonanza“ heimischer Firmen bzw. in Zeiten der sehr hohen Bewertungsprämien (von 50 bis 70 Prozent) heimischer Aktien in Relation zu breiteren europäischen Indizes. Derzeit werden heimische Aktien mit einem Bewertungsabschlag von 30 bis 40 Prozent gegenüber europäischen Pendants gehandelt. Langfristig gesehen liegt die Aktienmarktkapitalisierung in Relation zur Wirtschaftsleistung heute nur etwa 10 Prozentpunkte höher als zum EU-Beitritt, im Euroraum sind es immerhin 35 Prozentpunkte (ca. 60 Prozent des BIP).

In Summe bleibt Österreich aber noch immer eine der wohlhabendsten Ökonomien im Euroraum und liegt in Sachen BIP-pro-Kopf in der Eurozone nach Luxemburg, Irland und den Niederlanden auf dem vierten Platz, leicht vor Belgien und Deutschland. Noch seien die hierzulande zu vernehmenden Klagen über Wohlstandsverluste also lediglich „ein Jammern auf hohem Niveau“, konstatieren die Raiffeisenexperten und betonen: „Die konjunkturell enttäuschenden Entwicklungen der letzten zwei bis drei Jahre sind daher umso erschreckender und deuten darauf hin, dass der heimische Standort angesichts der schwachen Wirtschaftsentwicklung und der eklatanten Investitionsschwäche derzeit dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarktes und im Euroraum nicht mehr vollumfänglich gewachsen ist.“

Allerdings gelte: Das teils noch abstrakte Gefühl des schleichenden Wohlstandsverlustes, was auch eine gewisse EU-Skepsis hierzulande befördert, habe zunächst mehr mit nationalen als europäischen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen zu tun. „Insofern sollten Bestrebungen der Veränderung nicht vereinfacht auf Anti-EU-Agenden setzen“, sind sich die Raiffeisen-Experten einig.

AusgabeRZ1-2025

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