ESG: „Wir sind am Beginn einer Reise“

Die mannigfaltigen Facetten der grünen Transformation wurden beim diesjährigen „Talk im Schloss“ der Raiffeisenbank Kleinmünchen/Linz im Schloss Hohenbrunn in St. Florian beleuchtet.

Seit Ende 2019 hat sich die Europäische Union dem Umbau der Wirtschaft und Gesellschaft – Stichwort „EU Green Deal“ – verschrieben und will bis 2050 klimaneutral werden. Eine zentrale Rolle beim Übergang zu einer ressourceneffizienten und wettbewerbsfähigen Volkswirtschaft kommt der Sustainable Finance (Nachhaltigkeit im Finanzwesen) zu. Dabei sollen bei Investitionsentscheidungen auf Umwelt-, Sozial- und Governance-Aspekte (ESG) Rücksicht genommen. Nach einer anfänglichen Euphorie für das Thema Nachhaltigkeit ist man allerdings auch aufgrund der Regulierung in Europa nun in die Mühen der Ebene angekommen, berichten Finanzexperten bei der Kundenveranstaltung. 

Ulrike Rabmer-Koller, Unternehmerin und frühere Interessenvertreterin, betonte, dass Investitionen in den Klimaschutz nicht nur der Umwelt zugutekommen, sondern sich auch betriebswirtschaftlich rechnen. So konnte etwa mit vielen kleinen Schritten der Energieverbrauch in ihrem Unternehmen, das in den Bereichen Bau und Umwelttechnik tätig ist, in zwei Jahren um 30 Prozent eingespart werden. „Es ist jedem bewusst, dass die Nachhaltigkeit eine Notwendigkeit ist. Jeder kann etwas tun und es braucht für den Klimaschutz nicht einmal einen Komfortverzicht“, erklärt die geschäftsführende Gesellschafterin der Rabmer Gruppe.

Damit die Finanzströme von Investoren, Anlegern oder auch Geldgebern in die richtige Richtung gehen, soll die sogenannte EU-Taxonomie, die Regeln für grüne Investments aufstellt, sorgen. Diese Regulierung dürfe aber nicht dazu führen, dass Unternehmen in Europa oder in Österreich an Wettbewerbsfähigkeit einbüßen, fordert die Unternehmerin.

Die grüne Transformation sei sowohl Fluch als auch Segen. Wenn man sich die zusätzliche Bürokratie vor Augen führe, sei der in Europa eingeschlagene Weg sicherlich ein Fluch. Den Segen sieht die Unternehmerin aber in den für den Umbau zur Verfügung stehenden Finanzmitteln. „Das ist eine sehr große Chance – auch für exportorientierte österreichische Wirtschaft“, so Rabmer-Koller.

Hohe Komplexität

Von der wachsenden Bedeutung der Nachhaltigkeit in der Wirtschaft berichtete Erich Lehner, Managing Partner bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY: „Wir sind am Beginn einer Reise. Allerdings gibt es noch viele Unsicherheiten bei den Rahmenbedingungen.“ So sei Österreich wie viele andere EU-Länder bei der Umsetzung der Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD) säumig, was vor allem jene Unternehmen in ein Dilemma bringe, die erstmals ab dem 1. Jänner 2024 Nachhaltigkeitsberichte veröffentlichen müssen. Das betrifft Unternehmen von öffentlichem Interesse mit mehr als 500 Mitarbeitern.

Zudem kämpft man vielerorts mit der hohen Komplexität der ESG-Regeln. „Es gibt über 1.400 Ansatzpunkte im Zusammenhang mit der Taxonomie. Alle Umsätze oder Betriebsausgaben müssen in grüne oder nicht grüne unterteilt werden“, verdeutlicht Lehner. Das führe schon oft bei relativ einfachen Beispielen zu langen Diskussionen, wie zum Beispiel die Einordnung eines Dienstwagens unter Taxonomie-Kriterien.

„Wenn man als Investor oder Anleger in ein Unternehmen investiert, geht man davon aus, dass die Finanzzahlen stimmen. Den gleichen Ansatz verfolgt man für die Zukunft im Bereich der Nachhaltigkeit. In fünf bis zehn Jahren wird die Nachhaltigkeit für Investoren, Anleger, aber auch Geldgeber genauso wichtig sein wie die Finanzseite“, ist Lehner überzeugt.

Überbordende Regulierung

Den Blick aus der Finanzbranche auf die Nachhaltigkeit gab Jörg Bayer, der bei Raiffeisen Research die Abteilung Capital Markets & ESG verantwortet. Bis zum Jahr 2021 habe eine regelrechte Euphorie rund um das Thema ESG mit stark steigenden Zuwachsraten geherrscht. Danach erfolgte eine Trendwende vor allem aufgrund der Regulatorik.

Das größte Problem in Europa sei aber der eingeschlagene Weg, ist Bayer überzeugt. „Wir reden von Normen, Regelungen und Vorschriften, so gut wie nirgends kommt das Wort Anreiz vor“, kritisiert der Raiffeisen-Experte. Zur Ernüchterung beim Thema Nachhaltigkeit hätten auch die zu hohen Ertragserwartungen von Investoren und Anlegern beigetragen, die grüne Investments nie hätten erfüllen können.

Ein weiterer Punkt, warum den nachhaltigen Produkten zum Teil der Wind aus den Segeln genommen wurde, war eine bessere Performance einiger klassischer Wirtschaftssektoren wie der Energiebranche, wenn auch insgesamt gesehen grüne Aktien ihren klassischen Konkurrenten um nichts nachstehen, wie ein Vergleich des MSCI World und des MSCI World ESG zeigt. Herausforderungen sieht Bayer allerdings bei den ESG-Ratingagenturen. Die klassischen Ratingagenturen wie Fitch oder Moody’s sind in einem engen Korsett tätig. Die Unternehmen wissen, wie die Ratings erstellt werden, und diese seien auch nachvollziehbar und vergleichbar. Von derartigen Standards seien die ESG-Ratingagenturen noch weit entfernt. Aktuell gibt es Bayer zufolge an die 140 ESG-Ratingagenturen mit einer entsprechenden Vielfalt bei den erstellten Beurteilungen.

Insgesamt plädieren die Experten für Deregulierung beim Thema ESG in Europa, die „unbedingt notwendig“ sei. Verbote seien jedenfalls der falsche Weg und könnten technologische Fortschritte verhindern. Außerdem fordern sie klare rechtliche Rahmenbedingungen für die Industrie und Wirtschaft, um langfristig planen zu können, und das Vermeiden von Ho-ruck-Aktionen.

„Wir müssen unser Mindset ändern“, resümiert Bernhard Sommerauer, Vorstandsvorsitzender der Raiffeisenbank Kleinmünchen/Linz. Es gehe darum, sich von tradierten und strukturierten Themen zu lösen. Und die Banken seien gesetzlich dazu angehalten, der Katalysator für diesen Prozess zu sein.

AusgabeRZ43-2024

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