Leider war auch im letzten Jahr die Pandemie das vorherrschende Thema, beruflich wie privat. Wie haben Sie persönlich das zweite Corona-Jahr erlebt?
Walter Rothensteiner: Naja, man gewöhnt sich langsam an die Situation. Grundsätzlich bin ich froh, dass wir im Österreichischen Raiffeisenverband diese zwei Jahre der Pandemie relativ klaglos überstanden haben und auch weiterhin unsere Mitglieder und Kunden ordentlich betreuen konnten. Auch bei den gut vier Millionen Raiffeisen-Kunden hat es keine großen wirtschaftlichen Verwerfungen gegeben. Insofern ist die Gruppe insgesamt bis dato mit einem hellblauen Auge davongekommen. Die Staatsverschuldung leidet natürlich unter dieser Situation, aber nicht so sehr, weil das Geld für die Republik derzeit Gott sei Dank nicht teuer ist. Summa summarum hätte also alles schlimmer kommen können, als es tatsächlich der Fall war.
Was weiterhin ein Malheur ist, dass nach wie vor persönliche Treffen nur sehr eingeschränkt möglich sind und wir größtenteils über den Computer-Bildschirm miteinander kommunizieren. Vor allem die Gespräche vor, zwischen und nach den Sitzungen gibt es damit nicht, aber gerade diese sind oft wesentlich. Ewig kann das nicht so bleiben, also hoffe ich, dass wir die Pandemie bald überstanden haben. Denn ohne persönliche Kontakte und Gespräche verarmt man – gerade auch bei uns im Sektor.
Trotz der Hochschaubahn in der Covid-Entwicklung hat der ÖRV versucht, seine Mitglieder mit gewohnter Stabilität zu servicieren. Welche Dienstleistungen waren besonders gefordert?
Rothensteiner: Besonders gefordert war zunächst der Raiffeisen Campus, wo es gelungen ist, das Bildungsangebot komplett auf 100 Prozent virtuell umzustellen – bei gleichzeitig nahezu gleichen Erträgen wie vor Corona, was eine große Leistung ist. Gefordert war sicherlich auch die Raiffeisenzeitung, denn wenn man schon nicht miteinander reden kann, ist es wichtig, zumindest voneinander zu lesen. Und zusätzlich waren individuelle Regionalausgaben wichtige Kanäle zu den Kunden vor Ort. Alle anderen Services des Verbands, die Interessenvertretung, die Beratung, waren weitgehend über Bildschirm möglich. Und auch die Revision hat ihren Job trotz Ausnahmesituation gut bewältigt.
Als Generalanwalt haben Sie immer ein Ohr im Sektor, bei den Mitarbeitern und Funktionären von Raiffeisen. Mit welchen Herausforderungen war Raiffeisen Österreich im abgelaufenen Jahr konfrontiert?
Rothensteiner: Fairerweise muss man sagen, Raiffeisen Österreich hat im abgelaufenen Jahr sehr ordentlich funktioniert. Die Bankengruppe hat einen großen Schritt in Sachen Einlagensicherung gemacht, was für den Sektor ein wesentlicher Punkt ist. Der Agrarbereich konnte gerade angesichts der Pandemie seine wichtige Rolle zur Aufrechterhaltung der Lieferketten unter Beweis stellen. Und ansonsten können wir stolz sein, wenn die Dinge so weiter funktionieren wie bisher, trotz dieses Umfeldes. Und das ist gelungen – nicht, weil wir in Wien alles so gut steuern, sondern weil jeder Einzelne vor Ort in seinem Job erfolgreich ist. Dazu kommt, dass Raiffeisen Österreich auf eine neue Werbelinie setzt, die sich doch stark unserem Genossenschaftsthema annähert – was mich übrigens sehr freut, weil der Fokus auf das „Wir“ gerade in Zeiten wie diesen wichtig ist. Insofern ist viel geschehen und wir dürfen nicht unzufrieden sein.
Ihnen war und ist Diversität schon immer ein Anliegen. In einem ersten Schritt wurde auf Ihren Wunsch 2012 der Funktionärinnen-Beirat im ÖRV gegründet. Hat dieser zu einem Umdenken geführt?
Rothensteiner: Wenn man sieht, in wie vielen Raiffeisenbanken es mittlerweile Funktionärinnen gibt, muss man sagen, wir sind eigentlich sehr gut unterwegs. Dank gebührt dabei vor allem dem Funktionärinnen-Beirat, weil die Damen wirklich aktiv und in ganz Österreich unterwegs sind und einiges in die richtige Richtung bewegt haben. Wir werden zwar nicht so schnell einen Anteil von 50 Prozent Funktionärinnen haben, aber unser Ziel von 25 Prozent österreichweit bis 2025, das sollten wir doch erreichen können. Wir haben zwar noch ein paar Nachzügler-Bundesländer, aber die bekommen mittlerweile schon ein schlechtes Gewissen, wenn sie die Vorreiter sehen. Insofern wäre es mir ein Anliegen, dass man endlich einmal sagen könnte, es gibt keine Raiffeisenbank mehr ohne eine Funktionärin. Wir sind am Weg dorthin, ein paar Banken fehlen uns noch, aber es wird schon.
Nun legt man mit „Raiffeisen next“ einen Fokus auf die Jugend, speziell auf die nächste Funktionärs-Generation. Und auch die EU hat 2022 zum Jahr der Jugend erklärt. Warum ist es wichtig, jungen Menschen gerade jetzt eine Stimme zu geben?
Rothensteiner: Dazu habe ich ein Beispiel: Staatsopern-Chef Bogdan Roščić hat bei seinem Antritt eine Studie präsentiert, dass der Durchschnitt seiner Besucher in der Oper innerhalb des letzten Jahres genau ein Jahr älter geworden ist. Das bedeutet übersetzt: Es ist kein einziger Junger dazugekommen. Und genau das Thema haben wir bei Raiffeisen teilweise auch. Wir haben toll funktionierende Funktionärsgremien, aber wenn nichts unternommen wird, dass junge Menschen nachkommen – in Zeiten, wo man viel mehr mit Facebook, Instagram oder sonstigen Sozialen Medien lebt und viel weniger mit gegenseitigem Austausch –, dann wird uns das auch passieren, dass der Durchschnitt unserer Funktionäre jedes Jahr genau ein Jahr älter wird. Aber das darf nicht geschehen. Daher ist das Thema „Raiffeisen next“ ein wesentliches. Und (schmunzelt) es freut mich natürlich, dass uns die EU das nachmacht und 2022 zum Jahr der Jugend erklärt hat.
Welche Rolle spielen Schülergenossenschaften bei der Raiffeisen-Jugendarbeit?
Rothensteiner: Sie spielen noch keine sehr große Rolle, weil das ja eine ganz neue Initiative von ÖRV und Landesrevisionsverbänden ist – aber das wird sich sicherlich bald ändern. Die Idee ist nämlich genial: Eine kleine Organisation, die man als „freiwillige Übung“ im Schulbetrieb aufbaut, die aber alle Stücke in Sachen Genossenschaft spielt und in der man üben kann, wie das in der Praxis funktioniert, ohne große wirtschaftliche Risiken einzugehen – das ist Learning on the Job, wie es besser nicht sein kann. Daher hoffe ich, dass man da noch viele Schulen, aber natürlich auch Raiffeisenbanken als Partnergenossenschaften überzeugen wird können, hier mitzutun. Denn die nächste und übernächste Generation wird es uns danken.
Sie sind nun seit zehn Jahren Generalanwalt und damit höchster Repräsentant der österreichischen Raiffeisen-Organisation. In dieser Zeit hatte Österreich sieben Bundeskanzler. Wie wichtig ist Stabilität in der Führung – sowohl politisch als auch für ein Unternehmen?
Rothensteiner: Zunächst muss ich einräumen, dass es diese Fossilien, die 20, 30 Jahre im selben Job sind, eigentlich nicht mehr gibt. Mein Freund Andreas Treichl (langjähriger Chef der Erste Group, Anm.) und ich waren ziemlich die Einzigen, die jenseits der 20 Jahre Vorstandsvorsitzende waren. Das gibt es heute nicht mehr. Die durchschnittliche Halbwertszeit von Vorständen liegt bei vier, fünf Jahren. Das muss einem bewusst sein. Bei den Ministern ist das anders. Ich habe in meiner Amtszeit in diversen Vorständen 16 Finanz- und Justizminister erlebt. Die Sektionschefs darunter haben Gott sei Dank nicht so oft gewechselt. Aber man muss sich bewusst sein, dass heute jemand, der 20 Jahre im selben Job bleibt, nicht ausreichend Erfahrung sammeln kann. Insofern muss man damit umgehen lernen. Ich bin nur dagegen, dass man alle zwei Jahre neue Chefs hat, das zerrüttet Organisationen. Aber wenn sich im Zeitraum 6 bis 10 Jahre personelle Änderungen ergeben, werden das ordentliche Organisationen locker aushalten.
Abstimmung und Austausch mit politischen Entscheidungsträgern ist Alltag für Raiffeisen-Führungskräfte. Wie schwierig war das mit den zuletzt oft wechselnden Persönlichkeiten?
Rothensteiner: Abstimmung und Austausch passiert bei uns stark auf der Fachebene. Ich denke da etwa daran, welche wertvollen Beiträge unsere ÖRV-Interessensvertreter Johannes Rehulka als Geschäftsführer des Fachverbandes oder auch Josef Plank im Agrarbereich leisten. Natürlich sind auch Gespräche der Spitzenfunktionäre mit der Politik wichtig. Aber noch wichtiger ist, dass die Fachebenen miteinander kommunizieren. Und das läuft absolut klaglos.
Welche Entwicklungen im Sektor sind erfreulich? Gibt es eine Entwicklung, die Ihnen Sorge bereitet, wo man gegensteuern muss?
Rothensteiner: Wie bereits eingangs erwähnt, ist für mich erfreulich, dass man endlich mit der eigenen Einlagensicherung dort ist, wo wir hingehören, und dass die Marketing-Linie von Raiffeisen nun bewusst auch stärker auf das Thema „WIR“, also Genossenschaft, einschwenkt. Eine Entwicklung, die manchen Sorge bereitet, ist vielleicht, dass wir nicht umhinkommen werden, weitere Fusionen zu haben und Zweigstellen schließen zu müssen. Das ist sicherlich einer vernünftigen Betriebsgröße geschuldet. Die einzige Sorge, die ich dabei habe, ist, dass man den lokalen Bezug verliert und wir damit irgendwann nicht mehr in dem Ausmaß die regionale Bank vor Ort sein können, wie wir es heute sind. Ich weiß, dass viele unserer Geschäftsleiter massiv daran arbeiten, dass das nicht passiert. Aber diese latente Gefahr besteht im aktuellen Umfeld. Da müssen wir aufpassen und frühzeitig neue Ideen entwickeln, wie wir unser „Wir“, konkret den Kontakt zu den Kunden und besonders auch zu den Mitgliedern, in einer guten Balance zwischen regional und digital halten können.
Wie stehen Sie in diesem Zusammenhang zur Dreistufigkeit?
Rothensteiner: Die Dreistufigkeit des Raiffeisen-Sektors ist festgeschrieben. Ich habe zwar selber jahrelang daran gearbeitet, zumindest partiell einiges an der Dreistufigkeit aufzuweichen. Aber ich habe mich überzeugen lassen, dass man in der Form am besten verfährt, wie wir es derzeit tun. Und da wird sich auch so schnell nichts ändern.
„Raiffeisen ist mittlerweile sehr bunt geworden. Und
Walter Rothensteiner
das ist gut so.“
Raiffeisen ist mit seinen Unternehmungen und rund 50.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine wirtschaftliche Größe im Land. Wie sehen Sie das Standing von Raiffeisen in der Gesellschaft?
Rothensteiner: Ich habe immer schon ein wenig ein Problem damit, dass Raiffeisen als so groß dargestellt wird. Der einzelne Kunde erlebt Raiffeisen als Partner in seinem lokalen Umfeld. „Meine Bank“ und „Unser Lagerhaus“, die müssen ein gutes Standing bei den Menschen haben. Und wenn uns das 350 Mal in Österreich bei allen Raiffeisenbanken und 90 Mal bei allen Lagerhäusern gelingt, dann ist auch unser gemeinsames Standing in der Gesellschaft gut. Ich halte nichts davon, dass wir uns einer Konzerndenke nähern. Das sind wir nicht. Unser Ziel muss es vielmehr sein, vor Ort eine gute Position zu haben oder diese noch zu verbessern. Denn dort gehören wir hin. Wirtschaftlich natürlich, aber auch als Arbeitgeber, als gesellschaftlicher und sozialer Player, als Unternehmen, dem es nicht nur um das schnelle Geld geht, sondern um die langfristig positive Entwicklung einer Region.
Wesentlich dazu beitragen kann sicherlich, dass wir alle miteinander auch weiterhin einen Fokus auf das Thema Genossenschaft legen. Genossenschaft heißt, man muss mit anderen Menschen kommunizieren und kooperieren. Man muss vor Ort gemeinsam etwas tun. Umfragen zeigen, dass das Thema Genossenschaft ein wichtiges ist und sehr positiv in der Bevölkerung ankommt. Je mehr es uns gelingt, dieses „Wir“ als unsere Kernidee zu kommunizieren, desto mehr ist der „grüne Riese“ kein Thema mehr. Schon vor 30 Jahren habe ich bei Reden auf Generalversammlungen mit einem gewissen Augenzwinkern betont, dass wir kein grüner Riese sind, sondern viele kleine grüne Zwerge, die sich gegenseitig die Räuberleiter machen. Und heute müsste man sagen: kein grüner Riese und auch kein gelber. Wenn ich mir die Vielfalt gerade auch an neuen Genossenschaften anschaue, dann ist Raiffeisen mittlerweile sehr bunt geworden. Und das ist gut so.
Ende Juni geht Ihre Amtszeit als Generalanwalt zu Ende. Wie werden Sie die letzten Monate in dieser Funktion gestalten?
Rothensteiner: Auch nicht anders als die zehn Jahre davor. Wir werden Mitte März in den Gremien eine gute Nachfolgeregelung diskutieren und auch finden. Kontinuität heißt das Motto.