Eigentlich hätte vom 20. bis 21. Jänner die Info-Tagung des Österreichischen Raiffeisenverbandes (ÖRV) in Eisenstadt über die Bühne gehen sollen. Angesichts der angespannten Corona-Lage musste die zweitägige Veranstaltung aber in den Oktober verschoben werden. Als Alternativprogramm stellte der Raiffeisen Campus kurzerhand die Online-Veranstaltung „Top-Impulse für Raiffeisen-Spitzenvertreter“ zusammen. Nach zwei Jahren mit starkem Fokus auf das Hier und Jetzt gelte es, den Blick wieder nach vorn zu richten, auf die wesentlichsten Zukunftsfragen für den Raiffeisensektor, wie Josef Buchleitner, Geschäftsleiter des Raiffeisen Campus, eröffnete.
Damit man sich mit diesen Fragen auseinandersetzen kann, müsse man zuerst entscheidende Entwicklungen erkennen können, weiß Trendforscher Franz Kühmayer. Die Digitalisierung bedeutet eben mehr als Smartphones und mobiles Arbeiten, die weltweite Dekarbonisierung mehr als den Umstieg auf alternative Antriebe. „Wir betrachten die Zukunft durch die Brille der Leittechnologie der jeweiligen Gegenwart“, erklärt Kühmayer einen häufigen Fehler. Beim Blick nach vorne dürfe man die sozial-gesellschaftlichen Auswirkungen und Veränderungen nicht außer Acht lassen.
Während beispielsweise zu Beginn der Corona-Pandemie Improvisation und Toleranz gefragt waren, um mobiles Arbeiten zu ermöglichen, wird jetzt immer deutlicher, dass es nachhaltige Antworten für den Regelbetrieb braucht. Nicht das Schaffen von Infrastruktur ist die Herausforderung, sondern der begleitende Kulturwandel im Unternehmen, wie Kühmayer bereits beim letzten Leadership Kongress des Raiffeisen Campus betonte. Nach einer Krise den vorherigen Pfad wieder als Zielbild zu definieren, sei also nicht ratsam. Anstatt nur das Regel- und Krisenmanagement aufrechtzuerhalten, sollte man sich mehr in Richtung „Zukunftsmanagement“ entwickeln, um die Widerstandsfähigkeit zu stärken.
Dabei gebe es zwei Schlüsselaspekte zu beachten: Zum einen sollte man nicht von der Gegenwart nach vorne planen (Prognose), sondern die gewünschte Zukunft als Ausgangspunkt nehmen und den Weg dorthin analysieren (Regnose). Zum anderen muss man „schwache Signale des Wandels“ erkennen und sich mit ihnen auseinandersetzen.
„Wir haben die natürliche Tendenz, Systeme schützen zu wollen. Das ist die unterkomplexe Variante von Resilienz. Die spannendere Variante wäre, unter Belastung besser zu werden. Also nicht versuchen, den posttraumatischen Stress zu verhindern, sondern posttraumatisches Wachstum zu erzeugen“, erklärt Kühmayer das Prinzip der „Antifragilität“. Dazu braucht es eine Balance zwischen Robustheit und Beweglichkeit. Erstere entsteht aus der Kultur, den Werten und der Identität des Unternehmens. Das Geschäftsmodell muss beweglich sein.
Werte machen antifragil
Raiffeisen habe da einen entscheidenden Vorteil, sagt Michael Hengl, Gründer der Unternehmensberatung 1492: „Raiffeisen ist keine Maschine, sondern ein lebendes System. Und sozial vernetzte Systeme mit Werten sind antifragil. Deshalb ist auch Raiffeisen und die Genossenschaft ein echtes Zukunftssystem.“ Diese kollektive Intelligenz, das Wissen der Gruppe, sei „einer der wichtigsten Vermögenswerte des Sektors“, den es noch mehr zu kultivieren gilt.
Laut Hengl sind es vier Faktoren, die die kollektive Intelligenz erst ermöglichen, aber auch weiter stärken: Diversität, Transparenz, Feedback und Autonomie. Demnach kann erst durch die Verschiedenheit Neues entstehen. „Auf der emotionalen Ebene wäre es zwar besser, wenn alle einer Meinung sind“, weiß Hengl, aber erst das Verlassen der Komfortzone veranlasse Fortschritt. Durch Transparenz bzw. Zielklarheit werde die Sicherheit und das Vertrauen erhöht. „Das fördert die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung und Risikobereitschaft auf allen Ebenen der Organisation“, unterstreicht Hengl.
Feedback meint vor allem Dialog – und ohne Dialog keine Organisation: „Die Kommunikation und Reizreaktion sind überlebensnotwendig und essentiell für Lernen, Anpassen und Veränderung.“ Damit kommuniziert werden kann, müssen die Individuen der Gruppe auch autonom bzw. selbstorganisiert agieren können, erst dann entsteht die Vielfalt im Verbund.
Dass bei Raiffeisen dieses Rezept gelebt wird, kann ÖRV-Generalanwalt Walter Rothensteiner nach mehr als 40 Jahren Erfahrung bei Raiffeisen bestätigen: „Wir waren und sind kein Konzern! Nur dadurch war es möglich, dass sich jeder Teilbereich ordentlich entwickeln konnte.“ Neben der dezentralen Struktur des Raiffeisensektors zählt vor allem die Regionalität, also der Dialog mit der örtlichen Wirtschaft, sowie der „ordentliche Umgang“ innerhalb des Sektors. Für die Zukunft sieht der Generalanwalt die Organisation also gut aufgestellt.