„Die Bevölkerung ist weiter als der politische Diskurs“

Auch wenn die Aktienquote in Österreich zuletzt gestiegen ist, ist das Aufholpotenzial im internationalen Vergleich nach wie vor groß. Wiener-Börse-CEO Christoph Boschan sieht die Politik gefordert, um den Kapitalmarkt weiterzuentwickeln.

Mit der Zinswende hat sich das Anlageuniversum stark verbreitert. Die Zeiten, in denen es keine Alternative zu Aktien gab, sind vorbei. Was sind Ihre Erwartungen für das Börsejahr 2023?
Christoph Boschan: Aktien sind und bleiben ein Inflationsschutz. Sie sind gegenüber allen anderen Anlageformen historisch gesehen die renditestärkste Anlageklasse. Um beim Vermögensaufbau erfolgreich zu sein, gilt es gerade in Marktphasen mit kurzfristigen Schwankungen Geduld zu beweisen. Wichtiger als der Blick auf das aktuelle Börsenjahr ist jener auf die langfristige Entwicklung. Wer langfristig, gut gestreut, Stück für Stück anlegt und auf die Gebühren achtet, wird davon profitieren. Time in the market beats timing the market. 

Bei Ihrem Antritt 2017 als Börse-CEO lag die Marktkapitalisierung der Wiener Börse bei 38 Prozent des BIP. Wo stehen wir heute und wo wollen Sie hin?
Boschan: In dieser Hinsicht besteht dringend Aufholpotenzial für den österreichischen Kapitalmarkt im internationalen Vergleich. Die Wiener Börse liefert mit ihrer modernen Infrastruktur und mit ihrem Netzwerk die entscheidende Basis dafür. Für die Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen und die richtige Weichenstellung ist jedoch die Politik in die Verantwortung zu nehmen. Von einem aktiven öffentlichen Kapitalmarkt profitieren alle: Bürger steigern ihren Wohlstand, Unternehmen können Innovation besser finanzieren und die Volkswirtschaft erzielt höhere Wachstumsraten.

In der Pandemie hat der Aktienhandel deutlich zugelegt, nun sind wir wieder auf dem Vor-Corona-Niveau zurückgekehrt. Was sind die Gründe dafür?
Boschan: Nach drei Jahren mit starken Sondereffekten pendelte sich der Aktienumsatz 2023 auf dem Niveau vor der Pandemie ein. Natürlich wirken sich die multiplen Krisen und geopolitischen Auseinandersetzungen auf alle Finanzmärkte aus. In der aktuellen Phase warten viele Investoren zu. Das Auf und Ab liegt in der Natur der Märkte. Als Infrastrukturunternehmen ist es unsere Aufgabe, in jeder Marktsituation stabilen und transparenten Handel zu gewährleisten. Positiv zu bemerken ist, dass während der Corona-Pandemie vermehrt junge Menschen ihre Veranlagungen in die eigenen Hände nahmen. Das ist ein gutes Zeichen für die Aktienkultur.

Börsegänge waren im Vorjahr in Österreich, aber auch international Mangelware. Wann und warum könnte sich das ändern?
Boschan: Ganz klar wirkt sich ein unsicheres Marktumfeld auf die Prioritäten der Unternehmen, aber auch der Investoren aus. Durch das steigende Zinsumfeld gewinnt die Eigenkapitalfinanzierung über die Börse gegenüber der Fremdkapitalfinanzierung nun wieder an Attraktivität. Mit der Austriacard Holdings gab es im März bereits Zuwachs im Top-Segment Prime Market. Die Telekom Austria hat die Abspaltung der Mobilfunkmasten über die Wiener Börse im Jahresverlauf angekündigt. Die Pipeline für Börsengänge ist gut gefüllt. Das Interesse der Unternehmen zeigt sich auch bei unseren IPO-Workshops. Gute Vorbereitung ist aber entscheidend, um geeignete Marktfenster rasch nutzen zu können. 

Die Finanzwelt wurde durch plötzlich auftretende Turbulenzen bei US-Banken sowie durch die Credit-Suisse-Rettung erschüttert. Spüren Sie Auswirkungen auf den Finanzplatz Österreich? 
Boschan: Unsicherheiten rund um den Bankensektor kurbelten im März den Umsatz an und sorgten für einen zeitweiligen Rücksetzer in der Entwicklung des Nationalindex. Die Fälle der amerikanischen Regionalbanken, aber auch die Credit Suisse, sind in ihrer spezifischen Ausprägung nicht mit dem österreichischen Bankensektor oder den Aufsichtsbehörden in Europa vergleichbar. Ich hatte zu keinem Zeitpunkt über diese Institute hinausgehende Bedenken.

Dem Kapitalmarkt soll für die grüne Transformation eine Schlüsselrolle zukommen, um die Finanzströme in die „richtigen“ Investments zu lenken. Welchen Beitrag leisten bzw. können Börsen dabei leisten?
Boschan: „Richtig“ ist keine Kategorie, die eine Börse bewertet. Das Urteil liegt beim Investor und jeder politische Eingriff, der das Chancen-Risiko-Profil am Markt verschiebt, schafft Unwuchten. Generell ist es jedoch so, dass, der Kapitalmarkt Lösungen für viele Herausforderungen unserer Gesellschaft bietet wie alternde Gesellschaft, den Klimawandel und die fortschreitende Digitalisierung. Innovationsfinanzierung ist Eigenkapitalfinanzierung. Kein anderes Finanzierungsinstrument bringt Unternehmen so viel Kapital, Sichtbarkeit und nützliche Governance wie ein Börsengang. Staaten mit starken Kapitalmärkten transformieren schneller, nachhaltiger und werden mit größeren Wachstumsraten in die CO₂-freie, digitale Zukunft gehen.

Die traditionell niedrige Aktienquote in Österreich ist zuletzt gestiegen, wie eine aktuelle Umfrage zeigt. Demnach besitzt jeder vierte Österreicher Wertpapiere und 13 Prozent Aktien. Welche Anreize sind notwendig, um das Potenzial weiter zu heben? 
Boschan: Das Thema ist in der Mitte der österreichischen Gesellschaft angekommen. Die Bevölkerung hat zunehmend erkannt, welche Chancen der Aktienmarkt für den langfristigen Vermögensaufbau sowie die Altersvorsorge bietet und ist hier teilweise weiter als der politische Diskurs. Gerade im Hinblick auf die Alterung der Gesellschaft wächst der Druck auf das umlagefinanzierte Pensionssystem. Es braucht daher auf individueller Ebene eine Erleichterung der immens hohen steuerlichen Belastung. Das schafft finanziellen Spielraum, um für die Zukunft vorzusorgen und Wohlstand zu sichern. Hier ist die Politik gefordert, ihr Regierungsprogramm umzusetzen.

In der Finanzindustrie sind die Erwartungen an die „Künstliche Intelligenz“ teilweise sehr groß. Wie sehen Sie das?
Boschan: Als IT- und Infrastrukturunternehmen beobachten wir neue Technologien sehr genau. Für den Handel gibt es derzeit keine schnellere Technologie, um mehr Nutzen zu stiften als unser gegenwärtiges System. KI wird in der Finanzindustrie, denke ich, im Kundenkontakt und zunehmend in der Analyse eingesetzt werden. Welche Rolle KI im tatsächlichen Handel langfristig spielen wird, wird sich erst zeigen.

AusgabeRZ19-2023

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