Sie haben sich als Ort für das erste Interview als Generalanwalt Mühldorf in der Wachau ausgesucht, den Gründungsort von Raiffeisen Österreich. Warum?
Erwin Hameseder: In erster Linie, weil ich hier in Mühldorf geboren wurde. Durch Zufall ist das auch jener Ort, wo die erste Raiffeisenkasse Österreichs 1886 gegründet wurde. Und hier lässt sich eine schöne Brücke in mein Leben schlagen, denn ich bin schon als Kind mit Raiffeisen immer wieder in Verbindung gewesen. Der damalige Raiffeisen-Direktor war zwei, drei Mal im Jahr in der Volksschule und hat versucht, uns zu erklären, warum es wichtig ist, zu sparen.
Sie übernehmen das Amt des Generalanwalts im Alter von 66 Jahren. Braucht es diese Erfahrung für diese Funktion?
Hameseder: Ich denke, man muss nicht unbedingt 66 Jahre alt sein, aber das Alter ist in dem Fall mit Sicherheit kein Nachteil, weil man für diese Funktion Erfahrung und auch eine gewisse Reife braucht. Vor allem freut es mich, einstimmig gewählt worden zu sein. Das zeigt, dass man anerkannt ist, dass man mit Menschen umgehen kann. Ich freue mich sehr auf diese Funktion.
Was zeichnet einen guten Generalanwalt aus?
Hameseder: Ein Generalanwalt braucht ein gutes Netzwerk, nach innen zu all unseren Genossenschaften und nach außen. Wenn man von Raiffeisen spricht, denkt man in erster Linie an unsere Raiffeisenbanken und an die Warenorganisation. Aber Raiffeisen ist viel, viel mehr. Und auch dorthin muss die Vernetzung gegeben sein. Dann braucht es auch eine Vernetzung nach außen – im nationalen Bereich, zu Politik, Kultur, in die Wirtschaft, aber auch auf internationaler Ebene. Denn nur so ist es möglich, Durchschlagskraft zu haben, wenn es darum geht, für die eigenen Mitglieder wichtige Themen nach außen zu tragen und diese so zu platzieren, dass sie auch gehört werden.
Welche Schwerpunkte oder konkrete Handlungsfelder haben Sie sich vorgenommen?
Hameseder: Mir ist sehr wichtig, dass es uns für die Zukunft gelingt, die nächste Generation anzusprechen und die Jugend für uns zu gewinnen, sei es auf Mitarbeiterebene oder bei den Funktionärinnen und Funktionären. Ich möchte Raiffeisen als eine starke Arbeitgebermarke platzieren – wohl wissend, dass die Umsetzung dieses Zieles in unseren einzelnen Genossenschaften, aber auch in unseren Beteiligungsgesellschaften erfolgt. Zweiter Schwerpunkt ist das Thema Frauen. Wir brauchen und wollen unbedingt mehr Frauen in unseren Organen. Da ist meinem Vorgänger Walter Rothensteiner schon viel gelungen. Und genau dort möchte ich ansetzen und einen Turbo einschalten. Ich würde mich freuen, wenn wir am Ende meiner vierjährigen Funktionsperiode bei mindestens 25, aber eher in Richtung 30 Prozent Frauenanteil auf Eigentümerebene landen.
„Nachhaltigkeit ist in unserem Werteprofil enthalten.“
Erwin Hameseder
Bei Ihrer Rede vor der Generalversammlung haben Sie auch das Thema Nachhaltigkeit angesprochen. Wo werden Sie hier Akzente setzen?
Hameseder: Nachhaltigkeit liegt in der DNA von Raiffeisen. Das ist in unserem Werteprofil enthalten. Wir werden wesentliche Akzente setzen, denn nach dem Subsidiaritätsprinzip muss hier der ÖRV als Dachorganisation vorangehen und Ideen liefern. Die Expertinnen und Experten dazu haben wir ja. Die Umsetzung muss dann in den einzelnen Einheiten selbst erfolgen. Wir brauchen eine Klimaveränderung bei und für Raiffeisen, und das in zweierlei Hinsicht: einerseits mehr Diversität durch Frauen, andererseits auf der ökologischen und soziologischen Ebene durch einen Fokus auf das Thema Nachhaltigkeit. Diese Themen abzuarbeiten, das ist etwas, das der ÖRV mit Sicherheit tun kann.
Der ÖRV hat die letzten Jahre viel in Sachen Bewusstseinsbildung für Genossenschaften getan. Was haben Sie in diesem Bereich vor?
Hameseder: Befragungen zeigen klar, dass sich hier einiges zum Positiven weiterentwickelt hat. Aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Ich denke dabei vor allem an Genossenschaften, die sich mit Innovationen beschäftigen, etwa im Gesundheitsbereich oder an Schülergenossenschaften, aber auch an neue Genossenschaften im Energiesektor. Das ist ein Thema, das bei uns im ÖRV gut aufgehoben ist. Da erwarte ich mir auch eine noch engere Zusammenarbeit mit den jeweiligen Landesverbänden bzw. auch mit unseren Beteiligungsgesellschaften.
Ein gutes Netzwerk ist unabdingbar für einen Generalanwalt. Wie werden Sie Ihr großes Netzwerk im Interesse der Mitglieder des ÖRV einsetzen?
Hameseder: Vernetzung bedeutet für mich, dass man die Interessen der Mitglieder in den jeweiligen politischen Ebenen diskutieren kann, dort angehört wird, ohne natürlich auf politische Entscheidungen Einfluss nehmen zu wollen. Aber wichtig ist, dass wir uns für Themen, die uns berühren, an entsprechender Stelle einbringen und dort auftreten, wo die Spielregeln gemacht werden. Und ich weiß, dass die politischen Verantwortungsträger auch schätzen, wenn man sich konstruktiv in so einen Prozess einbringt. Nicht polternd, aber auch nicht zu leise. Mit aller Höflichkeit, aber jedenfalls bestimmt. Der ÖRV soll eine hörbare Stimme für die Anliegen unserer Genossenschaften sein.
Christian Konrad war sicher ein Generalanwalt, der in der Öffentlichkeit das eine oder andere Mal stärker wahrgenommen wurde. Walter Rothensteiner hingegen hat, nach seinen eigenen Worten, mehr im Hintergrund agiert. Die Zielsetzungen waren aber immer die gleichen. Ich werde meinen eigenen Weg gehen.
Raiffeisen ist ein Verbund selbständiger Einheiten, von Individualisten. Sehen Sie das als Hürde oder als Chance?
Hameseder: Eindeutig eine große Chance. Schwierig wird es oft deshalb gesehen, weil man etwas mehr Zeit aufwenden und in die Diskussion einsteigen muss, um eine gute Lösung herbeizuführen. Aber in letzter Konsequenz haben die noch so intensiven Diskussionen bis dato immer gute und vor allem haltbare Resultate gebracht. Was man tun muss, ist genau hinzuhören und gute Argumente zu liefern.
Was ich aber trotzdem spüre, ist, dass gerade aufgrund der derzeit schwierigen Zeit – Corona, Ukraine-Krieg, Rekordinflation – die Unsicherheiten größer werden und das Gemeinsame, das Füreinander-da-Sein wieder an Wert gewinnt. Das möchte ich fördern und ein Generalanwalt für ganz Raiffeisen sein. Ein Zeichen dafür wurde schon durch die neue Aufstellung der Generalanwaltschaft gesetzt, mit je einem Generalanwalt-Stellvertreter aus dem Geldsektor, dem Lagerhaus-Bereich und den Revisionsverbänden. Mit dieser breiten Aufstellung und Kompetenz ist es uns ein Anliegen, für unsere Mitglieder einen Mehrwert, einen Nutzen zu stiften.
Auch das Thema Regionalität dürfen wir dabei nicht aus den Augen verlieren. Denn trotz der Strukturveränderungen, die es bei Banken, in der Ware und auch bei Molkereien gibt, ist es für uns als ÖRV wichtig, das Thema Regionalität weiterhin auch auf der strategischen Ebene zu transportieren. Fest steht: Wir bleiben in den Regionen. Gerade in einer Zeit, in der die Globalisierung lange vorangetrieben wurde und man jetzt merkt, dass das Zusammenrücken, der Trend zurück in die Region, die Wertschöpfung in der Region zu erzielen, wieder an Bedeutung gewinnen. Das sind unsere ureigensten Themen, denn dahinter verbirgt sich das Werteprofil und das christlich-soziale Weltbild von Raiffeisen. Bei dem, was wir tun, ist unser Horizont weiter als nur die nächste Bilanz.
Der Raiffeisentag 2022 stand unter dem Motto „Wandel und Aufbruch“. Wie viel Wandel braucht Raiffeisen bzw. wohin bricht Raiffeisen auf?
Hameseder: Einen Wandel braucht jede Organisation. Die Frage ist, ob der Wandel einen überrascht oder ob man diesen Wandel aktiv gestaltet. Wir sind gerade in einer Phase, die wir über viele Jahrzehnte so nicht kannten. Diese negativen geopolitischen Veränderungen, ausgelöst durch den Ukraine-Krieg, die Pandemie, die Unsicherheit, die es auch durch die Digitalisierung gibt, Stichwort Cyberangriffe. Es ist eine komplexe Situation, die auch in der Bevölkerung und damit bei unseren Kunden zu Unsicherheit führt. Und daher ist es gut, wenn man sich Meilensteine setzt und diese gemeinsam abarbeitet. An Meilensteinen kann man sich orientieren, das gibt Sicherheit. Wir müssen die komplexen Themen herunterbrechen, verständlich machen, für unsere Mitglieder zuspitzen und daraus eine Problemlösung entwickeln. Fest steht, wir werden in Zukunft noch stärker als bisher als Dienstleister gefragt sein. Wenn wir uns im ÖRV als die genialsten Problemlöser einen Namen machen, haben wir unseren Auftrag erfüllt. Das würde ich mir als Generalanwalt an der Spitze des ÖRV wünschen.
Zuletzt ist der Raiffeisen-Sektor mit der Einlagensicherung näher zusammengerückt. Wo sehen Sie weiteres Potenzial in der Zusammenarbeit über die Bundesländergrenzen hinweg?
Hameseder: Hier sehe ich etwa in der Revision beim Thema Nachhaltigkeitsprüfung noch Möglichkeiten. Der ÖRV hat hier Vorbildfunktion und wir werden unser Know-how allen Landesverbänden anbieten. Ein Vorzeigebeispiel in Sachen Kooperation ist der Raiffeisen Campus, wo wir Aus- und Weiterbildung von der Lehre bis zur Hochschulbildung bereits anbieten. Ein weiteres, unverzichtbares Service, das sich über Jahrzehnte entwickelt hat, ist das Thema Kommunikation – mit der Raiffeisenzeitung als wesentlichem Medium für den Sektor, die all unseren Mitarbeitenden und Funktionären zur Verfügung steht. Auch hier sehe ich eine gute Weiterentwicklung, vor allem im digitalen Bereich, den wir in Zukunft verstärkt nutzen werden, um das eine oder andere Tagesthema zu kommunizieren. Das ist eine Möglichkeit, um noch rascher einerseits bei unseren Kundinnen und Kunden Gehör zu finden, aber noch wichtiger, um auch Themen bei der Politik entsprechend breit platzieren zu können. Zudem kann der ÖRV Treiber und Impulsgeber sein, um die Marke Raiffeisen über unsere Serviceleistungen stärker positiv aufzuladen. Jüngste Rankings zeigen, dass die Marke Raiffeisen, deren Markenrechte ja beim ÖRV liegen, weiter zurückgefallen ist. Der ÖRV kann sicherlich einiges dazu beitragen, dass wir wieder aufholen und die Marke mit neuen Botschaften versehen.