Sie stehen vor Ihrem vierten großen Turnier, was die A-Nationalmannschaft der Männer angeht. Als Spieler haben Sie zwei Weltmeisterschaften erlebt (Anm.: 1990 und 1998), als Sportdirektor die EURO 2021. Gibt es etwas, das kurz vor Turnierbeginn immer gleich ist?
Peter Schöttel: Ja, die riesige Vorfreude, egal in welcher Funktion man dabei ist. Als Spieler bekommst du überhaupt nicht mit, was alles nötig ist, um solch eine Teilnahme organisatorisch auf die Beine zu stellen. In meiner jetzigen Funktion siehst du genau, wie viele Leute daran arbeiten, damit rund um die Mannschaft alles funktioniert.

Und die Anspannung …
Schöttel: … war als Spieler wesentlich größer. Ich habe zwar mehr als 60 Länderspiele absolviert, war aber vor jeder Kader-Bekanntgabe nervös, ob ich wirklich dabei bin. Das wird auch jetzt viele Spieler vor der Bekanntgabe beschäftigt haben. 

Die Ausfall-Liste ist zwar nicht lang, aber mit David Alaba, Xaver Schlager und womöglich auch Tormann Alexander Schlager prominent besetzt. Trotzdem hat man das Gefühl, dass niemand in den Panik-Modus verfällt.
Schöttel: Es besteht generell ein wesentlich positiveres Gesamtbild der Nationalmannschaft in der Öffentlichkeit. Obwohl uns Schlüsselspieler und starke Persönlichkeiten ausfallen, sind wir so weit, dass wir uns für die EURO viel zutrauen. Das ist eine Folge des gesteigerten Selbstvertrauens, das wir alle in die Mannschaft und deren Umfeld haben.

Im Vorfeld des Turniers betraf die wichtigste Personalie keinen Spieler, sondern den Teamchef. Wie wichtig war es, rechtzeitig Klarheit über den Verbleib von Ralf Rangnick zu haben?
Schöttel: Unglaublich wichtig! Das Thema kam zu einem ganz schwierigen Zeitpunkt auf und hätte uns vor massive Probleme gestellt, wenn die Entscheidung für den FC Bayern ausgefallen wäre. Wobei für mich auch in diesem Fall klar gewesen wäre, dass er die EURO gemacht hätte, auch wenn man für eine vorzeitige Trennung durchaus hätte argumentieren können. Aber da hätte ich mir schwergetan, das der Mannschaft gegenüber zu erklären. 

Haben Sie in der heißen Phase mal eine Datei mit dem Namen „Plan B“ angelegt?
Schöttel: Natürlich! Es war für Ralf eine extrem schwierige und herausfordernde Situation. Er hatte zwei Top-Optionen auf dem Tisch liegen, dass er darüber nachdenkt, muss jeder verstehen. Darum waren wir gut beraten, ihn in keiner Weise unter Druck zu setzen und ihm die Zeit zu geben, die er benötigt hat.

Was war Ihrer Ansicht nach das entscheidende Argument pro Österreich?
Schöttel: Diese Verbundenheit zur Mannschaft ist keine mediale Inszenierung, sondern wirklich da. Und es spielt auch eine Rolle, dass er innerhalb des ÖFB nicht nur von allen Seiten respektiert wird, sondern auch sehr große Wertschätzung entgegengebracht bekommt. Jeder bemüht sich, dass sich Ralf bei uns wohl fühlt und dass seine Ideen umgesetzt werden.

Rangnick steht nicht nur für eine spezielle Art des Fußballs, sondern auch für eine eigene Arbeitsweise. Sie haben mit vielen Trainern gearbeitet. Was ist sein Alleinstellungsmerkmal?
Schöttel: Dass er ununterbrochen nach Optimierungen sucht, einfach alles unternimmt, um Erfolg zu haben. Ihm war zum Beispiel von Beginn an ganz wichtig, das ganze Land hinter die Mannschaft zu bringen, die Bevölkerung zu emotionalisieren, die Fans zu mobilisieren. Ich gebe zu, dass ich zum Teil skeptisch war, ob ihm das so gelingen kann.

Rangnick gilt als sehr fordernd, setzt bei sich, aber auch bei anderen hohe Maßstäbe an. Ist Ihr Job als Sportdirektor stressiger als vor zwei Jahren?
Schöttel: (schmunzelt) Er ist anders … Von Ralf kommen permanent viele Ideen, aber wir haben ihn von Anfang an eingeladen, sich den gesamten ÖFB anzuschauen und Vorschläge einzubringen. Das hat er auch gemacht. Er hat nicht nur für den ÖFB, sondern für den gesamten österreichischen Fußball einen Mehrwert. 

Der Auftaktgegner bei der EURO heißt Frankreich, einer der ganz großen Turnier-Favoriten. Mehr Chance oder mehr Risiko?
Schöttel: Ganz eindeutig mehr Chance! Etliche Turniere zeigen, dass die Großen am ehesten zu Beginn zu erwischen sind. So wie Argentinien 2022, das Weltmeister wurde, obwohl man das Auftaktspiel gegen Saudi-Arabien mit 1:2 verloren hat. Wir hatten in der Nations League zuletzt zwei Begegnungen mit Frankreich. Im Heimspiel waren wir 60 Minuten lang voll auf Augenhöhe, auswärts dagegen chancenlos. Jetzt treffen wir uns auf neutralem Boden. Auch Frankreich weiß, dass wir Waffen haben, mit denen wir großen Teams wehtun können. Es ist auch ein wichtiger Teil unserer Entwicklung, dass der Respekt uns gegenüber gewachsen ist.

Die weiteren Gegner heißen Polen und Niederlande. Einen deutschen Trainer zu haben bedeutet nicht automatisch, auch deutsches Losglück zu haben …
Schöttel: Ja, das hat sein Vorgänger Franco Foda besser hinbekommen. (lacht) Statt Polen wäre aber auch Italien möglich gewesen, es hätte also noch schlimmer kommen können. Wir haben die Auslosung rasch angenommen und rechnen uns trotzdem Chancen aus, die Vorrunde zu überstehen. Eines der ganz großen Verdienste von Rangnick ist, dass er den Glauben an etwas Großes nicht nur in die Köpfe der Spieler, sondern auch in die Köpfe des Umfeldes und jedes ÖFB-Mitarbeiters bekommen hat.

Außer dem Gastgeber hat kein Team so viele Deutschland-Legionäre dabei, im vorläufigen Kader sind es 13. Ein Vorteil?
Schöttel: Weiß ich gar nicht. Aber dass die EURO in Deutschland stattfindet, sorgt für riesiges Interesse und führt dazu, dass viele Österreicher vor Ort sein werden. Das macht es zu einem ganz anderen Turnier als 2021, als wir in Corona-Zeiten quer durch Europa geflogen sind. Spieler in Deutschland, deutscher Teamchef, dazu dessen Bayern-Geschichte – das macht es für alle interessant.

Rekord-Nationalspieler Marko Arnautovic wird seine letzte EURO spielen. Er wurde heuer Meister mit Inter Mailand, hat dort aber nicht viel gespielt. Was kann er der Mannschaft bei seiner dritten EM-Teilnahme geben?
Schöttel: Eine ganze Menge. Ein Typ wie er macht auch mit dem Gegner etwas. Wenn Marko auf dem Feld steht, ob in der Startelf oder als Einwechselspieler, haben die Gegner Respekt, das merkt man. Und er kann mit einer einzigen Aktion ein Spiel gewinnen, diese Fähigkeit haben nicht viele. Dazu kommt, dass er als anerkannter Leader auch in der Kabine eine wichtige Funktion hat.

Das gilt auch für Marcel Sabitzer, der mit einer unglaublichen Form zur EURO reist, mit Dortmund im Champions-League-Finale stand. Sie haben mit ihm schon vor mehr als zehn Jahren als Rapid-Trainer zusammengearbeitet.
Schöttel: Was ihn sportlich ausmacht, kann man auf Wikipedia nachlesen. Für mich war er im Frühjahr Dortmunds bester Spieler. Was mich aber am meisten beeindruckt: Er ist eine gestandene Persönlichkeit geworden, hat eine enorme Entwicklung genommen. Er ist ganz klar in dem, was er sagt und was er tut, hat eine starke Rolle in der Mannschaft. Er wird sicher einer unserer Trümpfe bei der EURO sein. Bei ihm sieht man, wie einem auch die schwierigsten Dinge mit einer Leichtigkeit gelingen können, wenn du ein intaktes Selbstvertrauen durch Erfolge hast.

Ist das die beste Nationalmannschaft aller Zeiten?
Schöttel: Das traue ich mich nicht zu sagen. Aber es ist eine richtig gute, die zur EURO fährt, um erfolgreich zu sein. Die wollen es jetzt wissen! Unsere Jungs sind hungrig und sehen, dass es ein sehr guter Zeitpunkt ist, etwas Großes zu schaffen.