Herbert Stepic: „Das Wort Resignieren kenne ich nicht“

Seit fast zwei Jahrzehnten setzt sich die H. Stepic CEE Charity dafür ein, Kinder in Zentral- und Osteuropa aus Armut und Aussichtslosigkeit zu holen. Gründer Herbert Stepic spricht über wachsende soziale Not und die Hilfe zur Selbsthilfe.

2006 wurde die H. Stepic CEE Charity gegründet – mit der Ambition „Kein Kind zurückzulassen“. Wie brisant ist das Thema Kinderarmut heutzutage?
Herbert Stepic: Die Überlegungen, die mich zur Gründung der Charity zu meinem 60. Geburtstag bewegt haben, sind heute genauso aktuell. Das Thema Armut wird durch Kriege und die Verschlechterung der Umweltbedingungen getrieben. Viele Millionen Menschen befinden sich weltweit auf der Flucht, was zu einer Verarmung führt, von der Kinder, alleinstehende Mütter und Senioren besonders betroffen sind. Selbst in Österreich gibt es zunehmende Kinderarmut – aktuell sind 18 Prozent aller Kinder und Jugendlichen von Armut bedroht. 

Die Charity konzentriert sich auf Projekte in Zentral- und Osteuropa.
Stepic: Die Raiffeisen-Organisation hat vom Fall des Eisernen Vorhangs unglaublich profitiert, bis heute. Es hat viele Jahre gegeben, wo wir 50 bis 60 Prozent der Gesamterträge in Osteuropa generiert haben. Der Wandel vom zentral gelenkten kommunistischen System zu einem freien erwerbswirtschaftlichen System ist bis heute aber auch mit eklatanten Umstellungsproblemen verbunden. Alte Versorgungsstrukturen – beginnend bei der Familie, über die Gemeinde, die Region bis zum Staat – sind außer Kraft gesetzt worden. Das hat zu einer Beschleunigung der Verarmung geführt. Die sozialen Enden, die Kinder und die Älteren, sind dabei die Hauptleidtragenden. Zudem gibt es die Qualität der Regierenden, die notwendig wäre, um alte Versorgungssysteme zu ersetzen, großteils nicht mehr. 

Wer trägt also Verantwortung für die wachsende Kinderarmut?
Stepic: Es gibt multiple Gründe, warum Menschen in Armut geraten und nicht ausreichend versorgt werden. Ein wesentlicher Punkt ist auch die persönliche Verantwortung. Das Thema Hilfe zur Selbsthilfe von Friedrich Wilhelm Raiffeisen hat mich schon als Jugendlicher fasziniert. Wenn staatliche Systeme nicht funktionieren, muss man Eigeninitiative ergreifen. Sich selbst die Ärmel hochzukrempeln und etwas zu tun, das ist zum Grundprinzip meines Lebens geworden. 

Wie sieht dieses Ärmel-Aufkrempeln bei der Charity aus?
Stepic: Wir haben allein im Vorjahr 400.000 Euro an Spenden in der Ukraine investiert und heuer mehr als 800.000 Euro an Direkthilfe in die Ukraine gebracht. Die Ukraine war immer ein wesentlicher Baustein. Von unserem Gesamtbetrag von rund 1,1 Millionen Euro gehen etwa 60 Prozent in die Ukraine, gefolgt von Serbien und Rumänien. Der restliche Teil fließt in andere Balkanländer, Kosovo, Albanien und Bulgarien, die nach wie vor im Transformationsprozess nachhinken.

Raiffeisen hat den Systemumstieg in Osteuropa mitfinanziert. Haben Sie ein schlechtes Gewissen, dass viele Menschen durch den raschen Systemumstieg auf der Strecke geblieben sind?
Stepic: Ganz und gar nicht. Raiffeisen ist eigentlich verantwortlich, dass dieser Umstieg mit Know-how-Input in insgesamt 16 Ländern in Osteuropa möglich geworden ist. Den Umstieg als solches möchte ich in keiner Form als schlecht darstellen. Im Gegenteil, der war absolut notwendig. 50 Jahre Kommunismus waren im Wesentlichen 50 Jahre Mangelwirtschaft, in der sich Kinder über eine Banane zu Weihnachten gefreut haben. Es hat dort kein freies Bankensystem gegeben, das haben wir als Erstes eingeführt. Raiffeisen hat dafür gesorgt, dass sich die Wirtschaft mit der Etablierung von normal-funktionsfähigen Banken überhaupt entwickeln konnten. Es hat für das breite Publikum keinerlei Bankprodukte gegeben. Es hat für die neu entstandenen Privatfirmen kein System gegeben. Wir haben in vielen Ländern Blaupausen für die Zentralbank geschrieben, wie etwa für das Bauspargesetz in Kroatien. Wir tragen aber auch soziale Verantwortung, dass die Armen bei diesem Umstieg nicht durch den Rost fallen. 

Herbert Stepic im Interview
© RZ/Alexander Blach

Hat es vor Gründung der H. Stepic CEE Charity bereits Hilfe vor Ort gegeben?
Stepic: Wir waren in unseren Ländern immer schon sozial aktiv. Raiffeisen ohne Sozialstaat ist unvorstellbar, das liegt in den Genen der Organisation und ist ein enormer Mehrwert für die Bevölkerung. Uns geht es nicht nur darum, ausschließlich den Gewinn zu maximieren, sondern wir sind Nahversorger und ermöglichen das wirtschaftliche Tun und Lassen in den Regionen. Der örtliche Bankdirektor ist der, der alle kennt und ihren Bedarf versteht. 

Bei der Stepic CEE Charity ist die Raiffeisenbank vor Ort auch ein wichtiger Teil. 
Stepic: Wenn ich auf irgendwas in meinem Leben stolz bin, dann dass es gelungen ist, ein System zu finden, wo wir qualitativ tätig sein können. Wir machen Projekte in allen Ländern, wo wir mit Raiffeisenbanken vor Ort tätig sind. Die Bankdirektoren vor Ort kennen den Bedarf. In Bosnien haben wir zum Beispiel einen Kindergarten für drei Ethnien ins Leben gerufen –  bei unseren Projekten darf es keinerlei religiöse oder ethnische Ausgrenzung geben. Die Mitarbeiter vor Ort sind für die Umsetzung und die Beaufsichtigung verantwortlich. Wir sind damit eine von wenigen, relativ großen sozialen Organisationen weltweit, die nichts kostet, sondern nur von Freiwilligen getragen wird. Andere Organisationen brauchen bis zu 60 Prozent ihrer gesamten Spendeneinnahmen für die Eigenverwaltung, bei uns kommen 97 Prozent der Gelder in den Hilfsprojekten an. 

Wie viele Freiwillige helfen mit?
Stepic: Allein in Wien sind es zwischen 30 und 40 Personen. Ein besonderer Dank geht dabei an das Management der Raiffeisen Bank International, das Mitarbeitern gestattet, auch während der Dienstzeit Dringendes für die Charity erledigen zu dürfen. Das ist ein Zeichen der Verantwortung von Raiffeisen. 

Wie sieht die Hilfe zur Selbsthilfe konkret aus?
Stepic: Wir investieren ein Maximum in die Bildung der Kinder. Die Straßenkinder-Zentren sind der Erfolg. In Novi Sad in Serbien haben wir das erste errichtet, um Kinder von der Straße und von allen Gefahren dort wegzuholen. Ich war viele Male in den Favelas und habe die Armut dort selbst gesehen. Wir schaffen ein Umfeld, den Schulbesuch gehen attraktiv macht: Essen, Kleidung, eine Dusche und für den Unterricht sorgen junge Studierende. 80 bis 90 Prozent der Straßenkinder gehen jetzt täglich in die Schule. Und wenn sie in die Schule gehen, können sie sich in Zukunft selbst ernähren, selbst erhalten, selbst eine Familie gründen und werden damit zu einem wertvollen Teil der Gesellschaft. 

Die Charity-Organisation gibt es seit knapp 20 Jahren. Was konnte sie bis dato bewirken?
Stepic: Wir sind sehr unterschiedlich tätig: Straßenkinder-Zentren, Waisenhäuser, Behindertenheime, Frauenheime, Kindergärten und Trainingszentren für Kinder, die Lernprobleme haben, weil sie zu Hause keine Unterstützung bekommen. Wir haben allein im Vorjahr 23.000 Kinder und Frauen betreut. Wir machen eine Vielfalt und jedes einzelne Projekt liegt mir am Herzen. 

Das Controlling übernimmt die Bank vor Ort?
Stepic: Ja, das macht die Bank sowie deren Rechtsabteilung – alle sind eingebunden. Als banknahe Organisation haben wir natürlich enorme Verantwortung und müssen völlig transparent sein. Wir haben eine offene Buchführung, die jedes Jahr von KPMG geprüft wird. 

Wohin fließen die Spendengelder? Wo ist aktuell die Not am größten?
Stepic: Das größte Projekt haben wir seit Kriegsbeginn in der Ukraine laufen. Da haben wir eine Form gewählt, die kriegsbezogen war und ist: „Kids Safe Haven“. Kleinere Beträge von 5.000 Euro sollen als Soforthilfe ein normales Leben nach Drohnenangriffen wieder ermöglichen. Wir setzen Wasserleitungen instand, lassen Kindergärten reparieren oder Erste-Hilfe-Stationen wieder herrichten. Wir haben derzeit zwischen 60 und 80 solcher Projekte. Vor dem Krieg haben wir größere Projekte in der Ukraine gemeinsam mit der Caritas und lokalen Hilfsorganisationen gehabt, davon sind wir nicht abgekommen, aber wir sehen andere Prioritäten. Wir müssen schauen, dass das Land nach wie vor funktioniert. Die Russen wollen das Land funktionsunfähig bomben und wir versuchen das Gegenteil zu tun.

Wird die psychologische Hilfe in dieser Situation verstärkt?
Stepic: Sehr massiv sogar. Wenn Kinder heute fast jede Nacht in einen Luftschutzkeller gehen müssen und nicht schlafen können, brauchen sie psychologische Hilfe. Oft ist es ein Tropfen auf dem heißen Stein, aber wir versuchen es zumindest.

Herbert Stepic im Interview
© RZ/Alexander Blach

Die Ukraine wird seit fast vier Jahren angegriffen. Was motiviert Sie nicht zu resignieren? 
Stepic: Das Wort Resignieren kenne ich nicht. Hindernisse sind da, um überwunden zu werden. Ich mag Menschen und verspüre eine große soziale Verantwortung. Ich bin auf die Butterseite des Lebens gefallen – denen, die das nicht sind, müssen wir etwas zurückgeben. 

Viele Organisationen haben bereits Strategien zum Wiederaufbau in der Ukraine entwickelt. Ist es nicht noch zu früh, um solche Pläne zu schmieden?
Stepic: Es ist nicht zu früh, aber schwierig, weil sich die Zerstörung täglich fortsetzt. Auch auf die Gefahr hin, dass etwas ein zweites oder drittes Mal zerstört wird, wenn man nicht sofort handelt, wird das Land funktionsunfähig. Der Begriff „Wiederaufbau“ kann man fälschlich verstehen, weil man an Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg denkt. In der Ukraine fallen täglich Bomben, trotzdem ist ein Wiederaufbau im kleinen Rahmen bereits angelaufen. Die Federführung liegt bei der Bank vor Ort und in der RBI, aber wir werden beim sozialen Teil des Wiederaufbaus eingebunden sein.

Andere Länder wie Rumänien haben wirtschaftlich stark aufgeholt, merkt man auch einen sozialen Aufholprozess?
Stepic: Rumänien und Bulgarien hinken beim Einkommen und dem Bruttonationalprodukt pro Kopf am meisten nach. Ja, es hat sich sehr viel verändert. Wir haben im Transformationsprozess unterschiedliche Phasen erlebt: Nach der ersten Phase des Turbokapitalismus haben sich einzelne Länder auf die EU vorbereitet. Jeder hat versucht, ins Land zu investieren, in Systeme, in Infrastruktur, in Menschen, in Sozialsysteme. All das hat es vorher nicht gegeben. Wenn ich die Infrastruktur anschaue, ist das EU-Infrastruktur, die ich dort erlebe, das freut mich als Europäer. Jetzt haben wir eine Phase, wo ein gewisser Ermüdungsprozess mit der EU stattfindet. Es gibt eine zunehmende Nationalisierungs­tendenz, auch weil sich viele Länder von der EU mehr erwartet haben und das befeuert die Rückschau auf das eigene Land. Dieser Prozess ist sehr gefährlich, weil er von zentrifugalen Kräften getrieben ist und nicht von Kräften, die auf Zusammenschluss, Vereinheitlichung und Stärkung der Einheit aus sind. 

Was heißt das für die Charity? 
Stepic: Wir werden mehr und mehr Aufgaben übernehmen müssen. Jegliche nationalistische Tendenzen führen letztlich dazu, dass Sozialsysteme gekürzt, Minderheiten benachteiligt und Geld für Schulen und Betreuung gekürzt werden. Es gibt eine Tendenz, die noch viel, viel mehr Einsatz karitativer Tätigkeiten, auch von uns, erfordern wird. Davon bin ich leider zutiefst überzeugt.

Teuerung und Arbeitslosigkeit sind in Österreich ein Thema. Wie wirkt sich das wirtschaftliche Umfeld auf die Spendenfreudigkeit aus?
Stepic: Mit der Corona-Pandemie hat die Spendenfreudigkeit zugenommen. 2023 haben wir eine gewisse Stagnation gehabt und seit dem Vorjahr ist eine leichte Abnahme zu verspüren. Die Spendenfreudigkeit war in Österreich immer relativ hoch, im Vorjahr lag sie bei 1,1 Mrd. Euro, aber meine Befürchtung ist, dass sie aufgrund der derzeitigen Situation weiter abnehmen wird. Ich stelle dabei fest, dass gerade die Reichen und Superreichen viel weniger spenden als die Mittelschicht oder Ärmeren. 

Herbert Stepic beim Besuch einer Sozialeinrichtung
In seiner aktiven Zeit als RBI-CEO war Herbert Stepic wöchentlich bei den Sozialeinrichtungen selbst vor Ort. Noch heute ist es ihm jedes Mal eine große Freude, die Kinder aufblühen zu sehen. © H. Stepic CEE Charity

Akquirieren Sie selbst Spendengelder?
Stepic: Natürlich. Ich bin beinhart und lasse keine Gelegenheit aus. Ein wichtiger Punkt ist auch, dass Mitarbeiter bei feierlichen Gelegenheiten für die Charity Spenden sammeln und etwa ihren runden Geburtstag zu einem Charityprojekt machen. Wir haben auch seit Jahren die Schultaschen-Aktion: Heuer haben wir 1.200 Schultaschen gesammelt und gefüllt in den Kosovo und nach Rumänien geschickt. Also auch die Mitarbeiter sind sehr engagiert, das macht mir große Freude. Der RBI-Vorstand ist auch sehr aktiv und nimmt eine Vorbildwirkung ein. Ich fühle mich natürlich auch sehr verantwortlich und nächstes Jahr zu meinem 80er wird es wieder einen Großbetrag geben. 

Wie oft sind Sie selbst vor Ort?
Stepic: Heute nicht mehr so oft wie früher. Früher habe ich jeden meiner Auslandsbesuche – und ich war jede Woche in einem anderen Land – auch karitativ genutzt. Heute fahre ich nur mehr drei- bis viermal im Jahr zu Schwerpunktprojekten, aber es ist mir jedes Mal eine große Freude. 

Nächstes Jahr 20 Jahre Charity. Was wünschen Sie sich zum Jubiläum?
Stepic: Dass wir viel Geld einnehmen und die Organisation durch das Engagement der Mitarbeiter so gefestigt ist, dass sie fortbesteht, auch wenn es keinen Herbert Stepic mehr gibt. Mir ist es wichtig, etwas Bleibendes zu schaffen, was mit mir nur als Gründer zu tun hat. Die Organisation wird auch heute schon von den Mitarbeitern getragen.  

AusgabeRZ49-2025

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