„Es sind schwierige Zeiten. Als Unternehmen muss man mit vielen Herausforderungen gleichzeitig fertig werden“, beschreibt Markus Mühleisen, Vorstandsvorsitzender der Agrana, die Lage in weiten Teilen der Wirtschaft. Er verwies dabei vor allem auf den verheerenden Krieg Russlands gegen die Ukraine, aber auch auf die seit über zwei Jahren andauernde Corona-Pandemie und den aktuellen Verwerfungen auf den Rohstoff- und Kapitalmärkten. In solchen Zeiten sei die Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln, nicht nur für Agrana, sondern für die gesamte Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Diese habe bereits während der Corona-Pandemie an Bedeutung gewonnen und rücke nun durch den Krieg noch einmal stärker in den Fokus.
„Agrana ist insgesamt gut positioniert, um einen Beitrag für die Versorgungssicherheit zu leisten“, sagt Mühleisen, der seit Juni 2021 den Zucker-, Stärke- und Fruchtkonzern leitet. (Lesen Sie hier das Antrittsinterview.) Mit insgesamt 9.000 Mitarbeitern betreibt der Nahrungsmittelveredler insgesamt 55 Werke in 26 Ländern und ist auf allen Kontinenten präsent. Allein in Österreich beschäftigt das Unternehmen rund 2.000 Mitarbeiter und betreibt neun Werke, in denen Produkte aus allen drei Agrana-Segmenten erzeugt werden.
Agrana stehe an einer wesentlichen Schnittstelle der modernen Gesellschaft zwischen dem Klimawandel, einer wachsenden Weltbevölkerung bei gleichzeitig erodierenden Anbauflächen und dem fortschreitenden Strukturwandel in der Landwirtschaft. „Das ist ein riesiges Spannungsfeld und bringt ganz, ganz große Herausforderungen mit sich“, weiß Mühleisen. So verursache die Landwirtschaft den Großteil des CO2-Fußabdrucks von Agrana. Es gebe aber keine einfachen Lösungen. Bis zum Sommer will der neue Vorstandsvorsitzende die Strategie des Konzerns an die neuen Herausforderungen anpassen, „um das nächste Kapital unserer Geschichte zu schreiben“.
Die Folgen des Krieges sind „voll da“
Der Konzern habe bereits in den letzten Jahrzehnten eine beachtliche Transformation durchlaufen, der Zuckerbereich sei mittlerweile das kleinste Segment im Unternehmen, mehr Umsatz und Ergebnis bringe die Stärke, während das jüngste Standbein, das Segment Frucht, sich zum größten Bereich entwickelt habe. „Gerade in diesem Segment sind wir vom Krieg in der Ukraine am stärksten betroffen“, erklärt der Agrana-CEO. In der ukrainischen Stadt Winnyzja 300 Kilometer südwestlich von Kiew habe der Konzern eine Fruchtzubereitungsfabrik mit rund 600 Mitarbeitern. Daneben wurde auch noch Fruchtsaftkonzentrat produziert und ein rund 950 Hektar großer Landwirtschaftsbetrieb betrieben. Auch wenn die Stadt bisher von den Kriegshandlungen weitgehend verschont war, „sind die Auswirkungen des Kriegs voll da“, berichtet Mühleisen.
Die Ukraine sei für Agrana ein wichtiges Herkunftsland im Bereich Frucht. Der Export aus der Ukraine sei komplett eingestellt worden, einige Mitarbeiter wurden in den Militärdienst einberufen. Über 40 Familien konnte man beim Verlassen des Landes helfen. Die Produktion in der Ukraine sei aus Sicherheitsgründen stillgelegt, an einzelnen Tagen werden aber Schichten gefahren, um die örtliche Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen – auch im Kriegsfall. Es seien noch ausreichend Lagerbestände vorhanden. „Die Versorgung der Bevölkerung ist auch der Grund, weshalb wir uns aus Russland nicht zurückgezogen haben, auch dort haben wir ein Werk“, so Mühleisen. Ein baldiges Ende des Kriegs scheint für Mühleisen unwahrscheinlich. „Wir planen die unterschiedlichsten Szenarien und müssen uns auch darauf einstellen, dass es längerfristig Kampfhandlungen geben wird. Das sehen wir mit Sorge. Momentan fahren alle auf Sicht“, sagt der Agrana-CEO. In der Ukraine erwirtschaftete Agrana einen Umsatz von 44,2 Mio. Euro bzw. 1,7 Prozent des Konzernumsatzes, während es in Russland 52,6 Mio. Euro oder 2,1 Prozent des Konzernumsatzes waren.
Global gesehen sei die Ukraine ein sehr wichtiger Getreideexporteur, vor allem in den Nahen Osten und Afrika, Agrana habe kein Getreide aus der Ukraine importiert. „Es wird eine Knappheit an Getreide und steigende Preise geben“, so Mühleisen. Denn viele Menschen in den Entwicklungsländern geben nahezu ihr gesamtes Einkommen für Lebensmittel aus, die Knappheit und Teuerung würde diese Menschen besonders hart treffen. „Das ist eine soziale Zeitbombe“, sagt Mühleisen.
Suche nach Alternativen
Kurzfristig stehe an oberster Stelle die Frage, wie man die Versorgungssicherheit sicherstellen und die Produktionsstätten unabhängig vom Gas machen könne. Der Gas-Anteil am Energiemix bei Agrana betrage in Österreich 60 Prozent. Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel die Zuckerfabrik in Tulln auf Heizöl umzustellen, was „eine Katastrophe für den Klimaschutz“ wäre, so Mühleisen. Vor solchen schwierigen Überlegungen stehe man nun aufgrund des Krieges. Auch der Ausbau von erneuerbaren Energien werde intensiv geprüft, auch wenn dies eher eine mittelfristige Perspektive sei. Hier gehe es darum zu prüfen, was man da beschleunigen könne. „Das ist aber nicht nur eine Frage der Technik, sondern auch der Infrastruktur“, weiß der Agrana-CEO und nennt als eine Herausforderung jahrelange Verfahren für Hochspannungsleitungen.
Aktuell sei man bei Agrana auch mit dem Bilanzieren des Geschäftsjahres 2021/22 beschäftigt, das per Ende Februar 2022 zu Ende ging. Wie es um die Werthaltigkeit der Assets in der Ukraine und Russland, aber auch um die Prognose für den Ebit-Anstieg im abgelaufenen Geschäftsjahr stehe, werde nun „intensiv geprüft“. Hinsichtlich des operativen Geschäfts sei man zuversichtlich gestimmt, allerdings werde nun vieles von den Auswirkungen des Krieges überlagert.
UPDATE: Wie Agrana nach dem Gespräch bekannt gab, rechnet das Management „mit einer großteils zahlungsunwirksamen Ergebnisminderung (EBIT) aus Asset- und Goodwill- Abschreibungen/Wertminderungen in einer Bandbreite von 65 Mio. Euro bis 85 Mio. Euro“.
Ausgeglichene Zuckerbilanz
Agrana gehört bei Fruchtzubereitungen, etwa für Fruchtjoghurt, und bei Fruchtsaftkonzentraten zu den weltweit drei größten Herstellern. Das Frucht-Segment steuert 50 Prozent des Umsatzes bei, 30 Prozent stammen aus dem Stärke-Segment und nur noch 20 Prozent aus der Zuckerherstellung. Mühleisen geht davon aus, dass der klassische Zucker unter anderem aufgrund der Ernährungstrends weiter an Bedeutung verlieren dürfte. Die Turbulenzen beim Zuckerpreis nach dem Aus der Europäischen Zuckermarktordnung 2017 habe man mittlerweile überwunden und der Preis habe sich wieder einigermaßen erholt. Momentan sei der europäische Zuckermarkt relativ ausgeglichen, tendenziell werde aber mehr nachgefragt. In Österreich sei der Rübenanbau seit Jahren rückläufig, es sei aufgrund der Schwere der Rohstoffe wirtschaftlich nicht sinnvoll, die Zuckerrüben über längere Distanzen zu transportieren. Deshalb sei es für den Betrieb der beiden heimischen Zuckerfabriken Tulln und Leopoldsdorf wichtig, insgesamt rund 3 Millionen Tonnen Zuckerrüben verarbeiten zu können. Das entspreche einer Anbaufläche von rund 38.000 Hektar. Für heuer habe man bisher eine Anbaufläche von 36.000 Hektar kontrahiert. Damit sei man nah genug dran, „um eine Bestandsgarantie für das Werk in Leopoldsdorf für 2022 abgeben“ zu können, so Mühleisen.
Als einen „wunden Punkt“ bezeichnete der Agrana-CEO die österreichische Entwicklung der Bioethanol-Beimischung in fossile Treibstoffe. Derzeit beträgt der Bioethanol-Anteil in den Treibstoffen 5 Prozent (E5), in der Vergangenheit wurde eine Erhöhung auf 10 Prozent (E10) in Aussicht gestellt. „Das ist eine der Maßnahmen, wo Österreich quasi auf Knopfdruck seine Klimabilanz verbessern könnte, aber aus politischen Überlegungen wird es nicht gemacht. Aus uns nicht verständlichen Gründen sperrt sich das Ministerium dagegen, die Klimabilanz zu verbessern“, so Mühleisen.
Bioethanol werde aus Mais und Restgetreide erzeugt. „Was wir produzieren, hat eine sehr, sehr gute Klimabilanz. Wenn wir uns anschauen, was wir alles tun müssen, um klimaneutral zu werden, dann spielt die Mobilität für diese Transformation eine wesentliche Rolle“, weiß der Agrana-Vorstandsvorsitzende. Es sei völlig klar, dass ein solcher Schritt nicht die langfristige Lösung der Mobilitätsfrage sei, aber als Übergangstechnologie wäre er hilfreich, um von fossilen Treibstoffen etwas unabhängiger zu werden. Agrana könnte den ganzen österreichischen Markt mit E10 versorgen, derzeit exportiere man aber einen Gutteil der Produktion in andere Länder.