„Die Paralympics stehen über allem“

Die sehbehinderte Skifahrerin Veronika Aigner hat schon zwei Kristallkugeln und die Trophäe für Österreichs Para-Sportlerin des Jahres abgeräumt. Nach schwerer Verletzung nehmen sie und ihr schwesterlicher Guide jetzt das nächste Ziel in Angriff: eine Medaille bei den Paralympischen Spielen in Peking.

Das ist wahre Geschwisterliebe. Als es im letzten Rennen der Saison 2019/20 um den Weltcupsieg im Slalom geht, wird Veronikas Schwester Elisabeth von heftigen Bauchschmerzen geplagt. Was im konkreten Fall doppelt suboptimal ist, da Elisabeth als Veronikas Guide fungiert – also als die Fahrerin, die eine stark sehbehinderte Athletin die Piste hinunter lotst. „Ich habe über unsere Funkverbindung mitbekommen, dass sie sogar während des Rennens vor Schmerzen geweint hat“, erinnert sich Veronika. Doch ihre Schwester hält durch, unten im Ziel leuchtet die „1“ auf. Und Elisabeth wird sofort ins Spital gefahren, wo sie noch am selben Tag am Blinddarm operiert wird. „Dieses Opfer hat sie nur für mich gebracht, weil sie unbedingt mit mir die Kristallkugel gewinnen wollte“, erzählt Veronika gerührt. „Das rechne ich ihr irrsinnig hoch an.“

Die Aigner-Schwestern sind wahrlich ein unzertrennliches Duo und gehören zu den schnellsten Geschwister-Paaren, die Österreich im Skisport hervorgebracht hat. Seit Elisabeth (23) ihre Solo-Karriere für beendet erklärt hat, ist sie als Guide für ihre fünf Jahre jüngere Schwester am Start. Bedeutet: Elisabeth fährt in einem möglichst knalligen Dress vorneweg und gibt permanent Anweisungen, worauf Veronika beim Hinterherfahren achten soll. „Eisplatten, Bodenwellen, weite oder enge Schwünge – sie sagt mir immer über unser Headset, was mich zwei Tore später erwartet“, erklärt Veronika, die seit ihrer Geburt an einer irreparablen Schädigung des Sehnervs leidet und ihre Umgebung nur schemenhaft wahrnimmt. „Ungefähr so, als würde man durch Schichten von Plastikfolie schauen.“

Ein spektakuläres wie zum Teil gefährliches Unterfangen, wie Veronika aus leidvoller Erfahrung weiß. Eigentlich in den technischen Disziplinen Slalom und Riesentorlauf unterwegs, absolvierten die beiden im Jänner dieses Jahres ein Abfahrtstraining. „Lisi taugen die Speed-Disziplinen ohnehin nicht, aber mir hat es immer total viel Spaß gemacht“, sagt Veronika. Doch ihre Schwester sollte Recht behalten. Beim Zielsprung verlor die Teenagerin die Kontrolle und legte einen heftigen Sturz hin. Die Folge: Kreuzbandrisse in beiden Knien. „Wir haben gleich gewitzelt, dass es bei der OP Mengenrabatt gibt“, erzählt Veronika. „Man muss auch in solchen Fällen optimistisch bleiben und versuchen, das Beste draus zu machen.“

Nichts überstürzen

Doch die Sache hat – sportlich gesehen – einen ernsten Hintergrund. Denn Anfang März 2022 finden in Peking die Paralympischen Winterspiele statt. Ein Ziel, das bei den Aigner-Sisters schon lange ganz oben auf der Prioritätenliste steht. In diesen Tagen beginnt Veronika erst langsam wieder mit dem Schnee-Training, obwohl die Saison im Welt- und Europacup bereits gestartet ist. Das Motto lautet: Nichts überstürzen und dabei eine neuerliche Verletzung riskieren!

„Wir haben uns ausgemacht, dass wir erst wieder voll loslegen, wenn ich dabei auch wirklich ein gutes Gefühl habe“, so Veronika, die den Sommer über in der Reha für ihr Comeback geschuftet hat und wieder komplett schmerzfrei ist. Im Jänner sollen dann die ersten Weltcup-Rennen in Angriff genommen werden, ob man die Weltmeisterschaften im norwegischen Lillehammer mitnimmt, steht noch in den Sternen. Veronika: „Die Paralympics stehen über allem, da möchten wir nichts riskieren. Daher bin ich auch froh, dass mir die Verletzung schon so früh passiert ist und nicht jetzt im Herbst. Das wäre vom Timing her viel blöder gewesen.“

Unter normalen Umständen wären die Aigners als ganz heiße Medaillenanwärterinnen nach Fernost gereist, nun ist die Ausgangslage viel schwerer zu beurteilen. Was nichts an Veronikas unbändigem Ehrgeiz ändert. „Manche sagen, ich bin eine Rampensau, kann dann die besten Ergebnisse abliefern, wenn es um etwas geht. Deswegen möchte ich unbedingt aufs Stockerl fahren. So eine Chance hat man schließlich nur alle vier Jahre.“ In den beiden Technikbewerben will sie fix an den Start gehen, ob sie bei der Kombination (Abfahrt und Slalom) dabei ist, will sie erst entscheiden, wenn sie die Speed-Strecke vor Ort inspiziert hat. „Nach dem Sturz ist mir die Lust auf weite Sprünge etwas vergangen“, sagt sie mit einem Schmunzeln.

Die Aigner Schwestern
Elisabeth und Veronika Aigner zählen zu den schnellsten Duos im Para-Skisport. (c) Carina Walter

Langjährige Partnerschaft

Eine ihrer wichtigsten Eigenschaften, die sie zu ihren Erfolgen getrieben hat, ist ihr starker Wille und ihr Durchsetzungsvermögen. Schon im Alter von zwei Jahren stand sie auf Skiern, da sie es ihren älteren Geschwistern gleichtun wollte. Mit sechs Jahren gewann sie Kids-Rennen gegen Gleichaltrige, die keine Beeinträchtigung hatten. „Erst dann hat sie etwas den Anschluss verloren, was ihr auch zu schaffen machte“, erzählt ihre Mutter Petra, die als Managerin des „Team Aigner“ (zu dem noch zwei weitere skifahrende Geschwister gehören) fungiert. Doch schnell war klar, dass „Vroni“ es im Para-Sport bis ganz nach oben schaffen kann, worauf sie schon bald ihren Ehrgeiz lenkte.

Allerdings: Während bei den großen Skirennen in Sölden, auf der Streif oder in Val d’Isere Preis- und Sponsorengelder in großem Stil fließen, steht der paralympische Sport finanziell eher im Schatten. „Ausrüstungen, Versicherungen, Reisen – eine Saison kann nur funktionieren, wenn wir etwas draufzahlen. An Geldverdienen ist in dem Bereich nicht zu denken“, sagt Petra. Und ist dabei umso froher, dass es mit der Raiffeisenbank Region Wiener Alpen seit mittlerweile fünf Jahren einen verlässlichen Partner gibt, der die Familie als Sponsor unterstützt. „Sie haben Elisabeth schon bei ihrer Karriere gesponsert, jetzt sind sie auch bei Veronika an Bord. Ohne diese Form der Unterstützung würde es nicht gehen.“

Wie lange es noch gehen soll, weiß Veronika allerdings schon ziemlich genau. Ihr Karriereplan sieht vor, dass sie bis zu ihrem 27. Lebensjahr fahren und sich danach anderen Plänen widmen will. „Dann hätte ich die Chance, an drei paralympischen Spielen teilzunehmen, das wäre fantastisch. Immer unter der Voraussetzung, dass gesundheitlich alles passt.“ Dass das das Wichtigste ist, hat sie spätestens seit ihrem doppelten Kreuzbandriss erfahren. Es soll eine einmalige Erfahrung bleiben.

AusgabeRZ45-2021

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