„Die Crowd ist viel intelligenter als ein Einzelner“

Nach zwei Jahren Planung kommt das Mammutprojekt „WIR’27“ der Raiffeisen-Bankengruppe Steiermark in die Umsetzungsphase. RLB-Generaldirektor Martin Schaller und Vorstandskollegin Ariane Pfleger sprechen über die neue Kultur der Zusammenarbeit und das gemeinsame Zielbild.

Martin Schaller und Ariane Pfleger im Porträt
© RLB Steiermark

Es heißt, Unternehmensveränderungen gehen leichter, wenn ein gewisser Druck besteht. Wie schwierig war es, das Projekt „WIR’27“ auf die Beine zu stellen?
Martin Schaller: Das Verbundstrategieprojekt „WIR’27“ ist nicht aufgrund eines externen Drucks entstanden, sondern aus einer Position der Stärke. Der steirische Raiffeisensektor ist risikotechnisch, kapitalmäßig und liquiditätstechnisch sehr gut aufgestellt und die aktuellen Ergebnisse sind sehr gut. Diese Zeit muss man nutzen, um zu überlegen, wie wir uns für die Zukunft noch stärker gemeinsam aufstellen können. Wir sind ergebnisoffen in das Projekt hineingegangen. Sehr oft ist es ja so, dass man als Auftraggeber schon vorher weiß, was man eigentlich will, und dann einen Berater holt, der das umsetzen soll. Das ist in diesem Fall ganz anders. Einige im Verbund haben gefragt, was wir mit dem Projekt erreichen wollen. Wie wir dann geantwortet haben, das sagt ihr uns bitte, war das eine neue Erfahrung. Im Zuge eines Crowdsourcings wurden mehr als 3.000 Kollegen aus dem steirischen Raiffeisensektor befragt, aus allen Raiffeisenbanken, der Raiffeisen-Landesbank und dem Raiff­eisenverband. Die Crowd ist viel intelligenter als ein Einzelner. Aus allen Ideen haben wir Leitlinien für die Zukunft entwickelt. 

Von wem kam die Initialzündung für dieses Projekt? 
Schaller: Die Initialzündung kam aus dem Vorstand der Raiffeisen-Landesbank, weil wir uns in der Rolle des Vordenkers für die gesamte Bankengruppe sehen. Wir wissen, das traditionelle Bankgeschäft wird durch neue Mitbewerber und andere Entwicklungen sicher nicht einfacher. Wir machen uns daher Gedanken, was können wir „Beyond“ Banking an neuen Konzepten aufstellen und wie können wir auch das traditionelle Bankgeschäft noch stärker, effizienter und symbiotischer machen.

Wie viele Ideen wurden beim Crowdsourcing eingebracht? Und waren alle Befragten von Anbeginn vom Projekt überzeugt?
Ariane Pfleger: Wir waren von der großen Resonanz positiv überrascht. Wir haben über Plattformen eingeladen, Ideen für einen kurz-, mittel- und langfristigen Horizont einzubringen. Neben den Mitarbeitern waren auch unsere Funktionäre eingebunden; Menschen mit einem anderen Arbeitsbackground als Raiffeisen befragen zu können, ist ein wertvolles Asset. Innerhalb von zwei Wochen wurden so über 2.800 Ideen generiert, die wir dann um Ideen aus Kundenworkshops ergänzt haben. Das Gesamtpaket haben wir dann zur weiteren Bearbeitung an ein Co-Kreationsteam, ein Team aus unterschiedlichen Mitarbeitern, übergeben. Diese neue Form der Zusammenarbeit hat gut funktioniert und uns auch kulturell einen enormen Schub verpasst. 

Wie schafft man es, aus 2.800 Ideen das Richtige und Wichtige herauszufiltern?
Pfleger: Wir haben sie nach Themenblöcken geclustert und so ein Zielbild für die RBG Steiermark erarbeitet. Es beginnt bei dem großen Themenblock Sinnstiftung sowie Identität und geht über zum Leistungsversprechen. Wir haben uns auch gefragt, welche Struktur braucht es, um das umsetzen zu können und wie das Produktportfolio aussehen sollte. Wie wollen wir miteinander umgehen im Sinne von einem Ökosystem und wo wollen wir im Beyond Banking unsere Fühler ausstrecken? Viele Ideen kamen auch zum Thema, wie man Erfolg messen kann.

Gibt es auch konkrete Ziele, die bei „WIR’27“ rausgekommen sind? Etwa Marktanteile zu heben oder Ergebnissteigerungen?
Schaller: Mit 50 Prozent Marktanteil ist es schwierig, den Marktanteil zu vergrößern, aber es gibt noch immer viel Potenzial. Mehr Kunden, mehr Marktanteile, mehr Erträge und weniger Kosten sind Ziele, die man aber nicht in quantifizierbare Maßstäbe gegossen hat. Es gibt aber viele Projektziele, von denen schon einige umgesetzt wurden. Und das große Ziel, eine Kultur der Zusammenarbeit zu schaffen, ist uns schon recht gut gelungen. 

Martin Schaller im Interview
© RLB Steiermark

Welche Themen beschäftigen die Bankengruppe momentan besonders intensiv?
Schaller: Wir haben die Megathemen Artificial Intelligence und Robotics auf der einen und beschränkende Themen wie Regulatorik und überbordende Bürokratie auf der anderen Seite. Auch das Thema Nachhaltigkeit, das heute schon jeder für sich in Anspruch nimmt, ist bei uns etwas ganz Besonderes. Unsere Nachhaltigkeit fußt auf drei Säulen: Es geht natürlich um die ökologische Nachhaltigkeit. Unser Auftrag bei Raiffeisen ist aber auch eine soziale Nachhaltigkeit – gerade in Zeiten, wo die Gesellschaft an den Rändern immer stärker wird. Unsere Aufgabe ist es, für die Bevölkerung soziale Abfederungen zu finden. Mit „WIR hilft“ haben wir zum Beispiel ein sehr nachhaltiges soziales Programm aufgestellt. Wenn es der Bevölkerung und der Wirtschaft gut geht, dann geht es uns allen gut. Selbstverständlich brauchen wir auch die finanzielle Nachhaltigkeit, um sich die ökologische und soziale leisten zu können. 

Zu welchem Bereich wurden bei „WIR’27“ die meisten Ideen eingebracht? 
Pfleger: Sehr viele Ideen kamen zu Produkten und Dienstleistungen für unsere Kunden. Ein zweiter großer Themenkomplex betrifft die Organisation, also wie wir uns aufstellen, um zukunftsfähig zu sein. Dabei geht es um Arbeitsbedingungen, die demografische Entwicklung und die Attraktivität als Arbeitgeber. Ideen mit längerfristigem Horizont kamen vor allem zu Beyond Banking. 

Es wurden 63 Maßnahmen herauskristallisiert. Gibt es nun eine Priorisierung?
Pfleger: Manche Initiativen sind sehr umfassend, wie zum Beispiel die Personalstrategie für die RBG Steiermark, an der wir derzeit noch arbeiten. Auch das Thema Energiegenossenschaften, wo in der Steiermark schon einige gegründet wurden, wird uns über Jahre begleiten. Aber es gibt auch Initiativen, die Quick Wins bringen. Wir wollen eine gute Mischung aus strategischen Ansätzen in Kombination mit kleineren Projekten, die schnell Wirkung zeigen. 

Gibt es Projekte, die bereits umgesetzt wurden?
Pfleger: Unser Business-Intelligence-Tool haben wir eigens im Rahmen von WIR’27 entwickelt und im Dezember ausgerollt. Damit stellen wir vorhandenes Datenmaterial jederzeit und tagesaktuell in einer modernen Form am Handy zur Verfügung. Es ermöglicht den Führungskräften einen schnellen Überblick im Sinne einer klassischen Gesamtbanksteuerung.
Schaller: Ein ganz wesentliches Projekt, das wir auch abgeschlossen haben, war die interne Leistungsverrechnung im Verbund. Dieses Dauerbrenner-Thema sind wir sehr intensiv – mehr als ein Jahr lang – mit Vertretern aus allen Ebenen angegangen und haben es auf neue Beine gestellt. Jetzt brauchen wir die nächsten fünf Jahre nicht mehr darüber diskutieren, sondern können uns auf unsere Kunden konzentrieren. 

Zu welcher Lösung ist man gekommen?
Schaller: In Wirklichkeit hat sich nicht sehr viel geändert, aber die Transparenz bis ins Detail und somit die Nachvollziehbarkeit ist jetzt gegeben.

Es hat mehrere Pilotprojekte gegeben, haben alle Ihre Erwartungen erfüllt?
Schaller: Es sind Projekte dabei, die sofort in den Regelbetrieb übergegangen sind. Außerdem gab es kein Projekt, das wir jetzt nicht gebraucht hätten.

Das Projekt „WIR’27“ ist grundsätzlich auf fünf Jahre ausgerichtet. Zwei Jahre hat man für die Planung gebraucht, bleiben noch drei Jahre zur Umsetzung. Wird sich das ausgehen?
Schaller: Meine Wunschvorstellung wäre ja, dass wir nicht 2027 damit aufhören, sondern diesen Modus über das Jahr 2027 hinaus beibehalten. Wir dürfen nie aufhören, uns weiterzuentwickeln. Aber man braucht eine symbolische Zahl: 2027 wird der Verbund in der Steiermark ebenso wie die RLB 100 Jahre alt. Er wurde damals gegründet, um unter anderem noch koordinierter zusammenarbeiten zu können. 
Pfleger: Die zwei Jahre waren sehr gut investierte Zeit: Wir haben ein gemeinsames Zielbild geschaffen und es war für uns schon neu, auf dieser strategischen Ebene in der Art zusammenzuarbeiten. Das ist auch der Grund, warum die Projekte so gut laufen.

Als große Gruppe braucht man oft länger, um zu Entscheidungen zu kommen. Wie schafft man es, agiler und schneller zu sein? 
Pfleger: Dieser neue Arbeitsmodus, hierarchieübergreifend und dass unterschiedliche Funktionen in den Arbeitsgruppen abgebildet sind, bringt sehr tragfähige Konzepte über die Häuser hinweg. Das macht es einfacher, Entscheidungen zu treffen. Die moderne Arbeitsform aggregiert sich dann bei uns im Verbundsteuerungsgremium in der Entscheidungsfindung. 
Schaller: Die stringente Organisation dahinter ist wichtig. In unserem Verbundsteuerungsgremium, wo Vertreter der Geschäftsleiter, Funktionäre, des Verbandes und der Landesbank drinnen sitzen, wird monatlich über Projektfortschritte und neue Projekte gesprochen. Wichtig ist die permanente Beschäftigung mit diesem Thema. 

Ariane Pfleger im Interview
© RLB Steiermark

Raiffeisenbanken sind nun mal selbstständig. Wie schwierig war es, die Banken zu überzeugen?
Schaller: Gar nicht schwierig. Alle Banken waren schnell mit dabei, weil es eine neue Form der Zusammenarbeit ist, man alle befragt hat und nicht etwas oktroyiert wird. 

Was ändert sich für die Raiffeisenbanken? Können die sich auch einzelne Projekte in der Umsetzung herausgreifen?
Pfleger: Die Projekte sind so erarbeitet, dass sie am Ende des Tages für jede Bank anwendbar sind, das liegt dann natürlich in der autonomen Entscheidung. Wir kriegen aber sehr positive Resonanz. Die Benefits sind durchaus gleich verteilt. Es sind ja die Ideen von uns allen, ergo gibt es eine hohe Akzeptanz, es in den Häusern zu implementieren. Als RLB begleiten wir dabei sehr intensiv, haben etwa eine Roadshow zu jeder einzelnen Raiffeisenbank gemacht, damit man diesen Informationsfluss gut am Laufen hält. Die Führungskräfte haben wir auch eingeladen, an einer Learning-Journey teilzunehmen, wo in vier Modulen erklärt wird, was es braucht, um gegenwartsfähig und zukunftsfähig zu sein. 

Welche Veränderungen ergeben sich aus dem Projekt für die Landesbank?
Schaller: Der Zusammenarbeitsmodus mit den Raiffeisenbanken wird neu definiert. Wir sind gerade dabei, das Projekt Charta 2.0 zu starten. Da reden wir quasi über eine Verfassung für die RBG Steiermark. Welche Gremien beschäftigen sich mit welchen Dingen? Welche Kompetenzen und Aufgaben haben die Gremien? Wie verbindlich sind die Entscheidungen? Das ist für uns ganz wichtig, um die Tätigkeiten der RLB zu schärfen. Als RLB haben wir drei Fokusfelder: die RLB als Kundenbank. Wie können wir uns noch stärker und optimal auch mit den Raiffeisenbanken aufstellen? Wir wollen ja den Marktanteil ausbauen und da wollen wir auch als Landesbank stark dazu beitragen. Das zweite Standbein ist die Sektorbank, also wie kann die RLB alle Dienstleistungen für die Raiffeisenbanken noch effektiver und effizienter zur Verfügung stellen. Wo können wir alte Zöpfe abschneiden und wo neue Dinge anbieten? Das dritte Standbein haben wir neu definiert, obwohl es nicht neu ist: Wir wollen in der Steiermark ein „Center of Gravity“ für Zukunftsthemen sein, die das gesamte Land betreffen. Wo können wir unser Netzwerk optimal einsetzen, über das traditionelle Bankgeschäft hinaus. Wir wollen für die Bevölkerung und unsere Unternehmen eine Vorreiterrolle einnehmen. 

Gibt es schon konkrete Projekte im Beyond Banking?
Schaller: Ja, es gibt Themenfelder wie Energie, Gesundheit, Kreislaufwirtschaft und auch Plattformökonomie, mit denen wir uns intensiv beschäftigen, aber wir sind noch nicht am Ziel.

Hat das Projekt „WIR’27“ an der Stimmung im Sektor etwas verändert?
Schaller: Ich bin seit etwas mehr als zehn Jahren dabei und traue mich zu sagen: Die Stimmung war noch nie so gut wie jetzt. 
Pfleger: Wir haben eine sehr gute Gesprächsbasis und einen guten Reifegrad, Dinge anzusprechen, sowohl die angenehmen als auch die kritischeren. Das finde ich großartig, weil nur so kann man sich weiterentwickeln. Wir haben ein gutes Maß an Vertrauen in der Gruppe, das sind ganz gute Voraussetzungen, um gemeinsam Zukunft zu gestalten.

In manch anderen Bundesländern laufen ähnliche Strategieprojekte. Gibt oder gab es da einen Austausch?
Schaller: Ein Austausch ist immer gut, ist immer notwendig und sollte immer stattfinden. Aber das Projekt ist so umfassend und die Steiermark so groß, dass wir es einmal im Bundesland für uns machen. 

Vielleicht gibt es nach dem Interview Interesse von anderen. Wären Sie bereit, etwa das BI-Tool anderen Bundesländern zur Verfügung zu stellen? 
Schaller: Natürlich. Wir sind an Kooperation und Zusammenarbeit nicht nur in der Steiermark, sondern in ganz Österreich höchst interessiert.