„Die Menschheit war noch nie so verspielt wie jetzt“

Die Erfolgsgeschichte von Österreichs größtem Spieleverlag begann vor 200 Jahren als Kartenmalerei in Wien.

Betritt man das Besprechungszimmer der Firma Piatnik, so liegt das Geräusch von arbeitenden Maschinen in der Luft. Die dumpfe Regelmäßigkeit und Monotonie der aus den Fabrikshallen herunter schallenden Maschinen hat beinahe etwas Meditatives an sich. Ob die stetige Geräuschkulisse sich auch auf den Geschäftsführer des Unternehmens, beruhigend auswirkt? Zumindest wäre Dieter Strehl laut eigener Aussage beunruhigt, wäre nichts zu vernehmen. Seit 1891 laufen an seinem Arbeitsplatz in der Fabrik in der Wiener Hütteldorfer Straße die Maschinen. Rund 25 Millionen Spielkarten, drei Millionen Brettspiele und eine Million Puzzles erzeugt Piatnik hier jährlich. 

Derweil fing auch für Österreichs größten Spieleverlag einmal alles klein an: Im Jahr 1824 gründete der Kartenmaler Anton Moser in der Wiener Kaiserstraße eine kleine Kartenmalerei. Die Firma war zu jener Zeit noch eine von rund 200 dieser Art in Wien; Spielkarten wurden damals noch gemalt und nicht gedruckt. Als Moser starb, heiratete sein ehemaliger Angestellter Ferdinand Piatnik dessen Witwe und übernahm gerade einmal 24-jährig das Geschäft.

Piatnik zeigte unternehmerisches Talent und wusste die Vorteile der Industrialisierung geschickt für sich zu nutzen. Die Fabriksgründung in der Hütteldorferstraße erfolgte später unter Piatniks Söhnen. Neben der Aufnahme der Söhne ins Firmenschild schaffte es ab dem Jahr des Umzuges auch der bis heute markant gebliebene Jockey in die Mitte des Logos, was auf die Liebe einiger Familienmitglieder zum Reitsport zurückzuführen ist. 

Für jede Altersklasse

Aktuell hält Dieter Strehl als Urur-Enkel Ferdinand Piatniks die Zügel des Familienunternehmens fest in der Hand. Seit der Firmengründung vor 200 Jahren hat sich naturgemäß nicht nur im technischen Bereich vieles verändert. Noch nie in ihrer Geschichte hätte die Menschheit über derart viel Freizeit verfügt, meint Strehl. Mit dem steigenden Ausmaß an Zeit sei es zu einem noch nie dagewesenen Angebot an Spielen gekommen.

Über 3000 Spiele erscheinen allein in Deutschland jährlich auf dem Markt. Rund 20 davon stammen von Piatnik. Für das Jahr 2024 reicht die Palette beispielsweise von der kooperativen, mittels 3D-Brille ausgetragenen Beutejagd „2together” bis zur anlässlich des 200-Jahre-Jubiläums kreierten Ausgabe von „Crime Scene Vienna 1824”. Ebenfalls erhältlich sind zwei neue Kartensets für „Smart 10”. Das Quizspiel ist mittlerweile zum Hit für Piatnik avanciert. Erdacht wurde es von Arno Steinwender, Spieletester und Spieleautor. Ein Beruf, der in den vergangenen Jahren verstärkt Aufwind erfahren hat.

Dementsprechend trudeln auch bei Piatnik jährlich mehrere Hundert Ideen für neue Brettspiele ein. Waren es zu Beginn noch allseits bekannte Spiele ohne Autoren wie Schach, Backgammon oder Mühle, die beim traditionellen Spielkarten-Hersteller Piatnik ab den 1950er-Jahren verlegt wurden, so kamen später weitere Brettspiele für alle Altersklassen hinzu. Längst zu Piatnik-Klassikern avanciert ist das 1990 erstmals erschienene „Activity”, von dem mittlerweile 12 Millionen verkauft worden sind.

Seit 2008 zeichnet Piatnik zudem für die Herausgabe von „Das Kaufmännische Talent” verantwortlich. Von letzterem, kurz DKT genannten, stapeln sich im Büro von Strehl über 50 verschiedenen Ausführungen – von den Wiener Bezirks-Varianten über eine Version, die die Fluglinie AUA für ihre Mitarbeiter beauftragt hat bis hin zum Salzkammergut-DKT. Ebenfalls in der Sammlung des Hausherren befinden sich für den ausländischen Markt produzierte Versionen von „80 Days”, das für einen Kunden in Taiwan hergestellt wurde sowie eine Version von „Tick Tack Bumm” für einen Kunden in Hongkong. 

International im Trend

Produkte von Piatnik sind heute in über 70 Ländern erhältlich. Der Spielemarkt boomt, denn immer mehr Erwachsene greifen neben Spielkarten auch zur Spielfigur. „Meine Großeltern wären nie im Leben auf die Idee gekommen, sich zum Brettspielen zu treffen“, verrät Strehl. 

Dass die ebenfalls stark anwachsende Nachfrage nach digitalen Spielen dem Brettspiel in Zukunft den Markt abgraben könnte, diese Gefahr sieht Strehl nicht. Das sei wie beim Sport, wo Tennis und Fußball auch nebeneinander existieren. Zudem hätte das Brettspiel den Vorteil, dass ein Computer weniger zum Lachen einlade. Brettspielen mache außerdem nicht nur Spaß, sondern vermittle auch wichtige soziale Kompetenzen. Kinder könnten laut Strehl lernen, dass es Sinn macht, sich an Regeln zu halten und erfahren, dass sie die Eltern schlagen können – was im Alltag sonst nicht so gegeben ist. 

Doch was macht eigentlich ein gutes Spiel aus? Dem Experten zufolge muss man in das Spiel hineingezogen werden, „wenn man sich mit Freude den Regeln unterwirft, in den Flow kommt und mitten im Kosmos des Spiels drinnen ist“. Entscheidend für ein gutes Spiel – egal ob Brett, Karten- oder Würfelspiel – ist vor allem, so einfach es klingt, „dass man es noch einmal spielen möchte“, so Strehl.

AusgabeRZ20-24

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