Am 2. Mai waren im ganzen Land Jubelschreie von Fußball-Fans zu vernehmen, obwohl an diesem Tag gar kein Spiel stattfand. „Ralf Rangnick sagt dem FC Bayern ab – und bleibt österreichischer Teamchef“, lauteten die Breaking News, die sich wie ein Lauffeuer verbreiteten. Eine an sich profane Nachricht, die aber zwischen den Zeilen eine ganze Reihe großer Botschaften enthielt.
Nämlich diese: Einer der gefragtesten Trainer der Gegenwart verzichtet auf die Aussicht auf große Titel und ein fürstliches Gehalt, um zu seinem Wort zu stehen und seine Mission in einem kleinen Fußball-Land wie Österreich fortzusetzen. „Ein unglaublich wichtiges Signal“, frohlockt auch ÖFB-Sportdirektor Peter Schöttel in unserem großen Interview. „Diese Verbundenheit zur Mannschaft ist keine mediale Inszenierung, sondern wirklich da.“
Nun hätte die Vorfreude auf das Turnier hierzulande ja gar keinen Boost nötig gehabt. Die Ticket-Anfragen der rot-weiß-roten Fans überstiegen das Angebot ohnehin um ein Vielfaches, der Glaube daran, bei einem großen Turnier für Furore zu sorgen, war überall zu spüren. Aber mit der Bekanntgabe von Rangnicks Verbleib ging noch einmal ein Ruck durch die Fußball-Nation, die Erkenntnis lautete: Wenn jemand wie Rangnick vom Erfolg der Mission überzeugt ist, dann sind wir es auch. Getreu dem vom ÖFB selbst ausgegebenen, wenn auch grammatikalisch nicht ganz einwandfreien Motto: Alles machbar beim Nachbar!
Nun ist die härteste Währung im Fußball ja das Ergebnis, und auch da hat sich die Nationalmannschaft zuletzt ein fettes Polster auf dem Konto erarbeitet. In den acht Spielen der Qualifikation für die Europameisterschaft gelangen sechs Siege und ein Remis, lediglich die starken Belgier konnten Österreich einmal bezwingen. Wobei die Leistung bei der 2:3-Heimniederlage dafür sorgte, dass die Mannschaft nach Schlusspfiff trotzdem minutenlang mit Applaus und Sprechchören bedacht wurde. „Selbst dieses Spiel bleibt in positiver Erinnerung, weil wir ungeachtet der Niederlage vom Publikum für unseren Einsatz gefeiert wurden“, sagt Nicolas Seiwald. Der Legionär von RB Leipzig hat als einziger Österreicher seit Jahresbeginn 2023 alle Spiele über 90 Minuten absolviert und gehört zu den unverzichtbaren Stützen des Teamchefs.
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Kein Spannungsabfall
Doch auch nach der erfolgreichen Qualifikation gab es keinen Spannungsabfall, wie er noch bei der EURO 2016 unter Teamchef Marcel Koller zu beobachten war. In Testspielen wurde erst EM-Gastgeber Deutschland in Wien mit 2:0 besiegt, die Türkei, ebenfalls bei der EURO dabei, wurde gar mit 6:1 gedemütigt. 1,95 Punkte holte Rangnick im Schnitt pro Spiel bei seinen 20 Einsätzen, das ist die beste Ausbeute, die je ein ÖFB-Teamchef eingefahren hat. Erfolge, die unterstreichen, wie ernst sich alle Beteiligten auf das Turnier vorbereiten. Und die zeigen, dass man sich auch nicht von Rückschlägen vom eingeschlagenen Erfolgsweg abbringen lassen will.
Alaba im Trainerstab
Denn diese gab es durchaus auch. Allen voran der Ausfall von David Alaba, der sich im Dezember einen Kreuzbandriss zuzog und das Rennen gegen die Zeit beim Comeback-Versuch verlor. Der Verteidiger von Real Madrid ist nicht nur auf dem Platz eine schwer ersetzbare Größe, sondern als Kapitän und Integrationsfigur auch in der Kabine eminent wichtig. Um auf letztere Qualitäten nicht verzichten zu müssen, hat man sich allerdings einen besonderen Schachzug ausgedacht. Denn der 31-Jährige wurde kurzerhand in den Trainerstab befördert und soll dort als Bindeglied zwischen Mannschaft und Staff fungieren. „Es war sein Wunsch, dabei zu sein. Er wird seine Erfahrung, Ausstrahlung und Charisma einbringen“, freut sich Rangnick über den gelungenen Coup.
Neben Alaba werden auch Sasa Kalajdzic (Eintracht Frankfurt) und Xaver Schlager (RB Leipzig) das Turnier wegen Knieverletzungen verpassen. Zwei Deutschland-Legionäre, denen man durchaus starke Rollen zugetraut hätte. Doch auch ohne diese beiden Spieler standen 13 Profis im vorläufigen EURO-Aufgebot (der endgültige Kader wird am 7. Juni bekannt gegeben), die ihre Brötchen im Gastgeberland verdienen. Und zwar nicht als Mitläufer bei Mittelständlern, wie es noch vor einigen Jahren der Fall war. Sondern als Leadertypen bei Top-Klubs, die im oberen Tabellendrittel angesiedelt sind. Konrad Laimer beim FC Bayern. Nicolas Seiwald oder Christoph Baumgartner bei RB Leipzig. Und natürlich Marcel Sabitzer, der Borussia Dortmund bis ins Finale der Champions League geführt hat. Als „einen unserer Trümpfe“ bezeichnet Schöttel den Mittelfeld-Strategen, der neben Marko Arnautovic der einzige Österreicher ist, der bereits vor acht Jahren in Frankreich dabei war und somit seine dritte EURO absolviert.
Erfahrene Mannschaft
Denn eins ist auch klar: Es ist zwar immer noch eine junge, aber keineswegs eine unerfahrene Mannschaft, die in Deutschland für Furore sorgen will. Die Startelf, die Ende März die Türkei besiegte, hatte bei einem Durchschnittsalter von 26,36 Jahren 294 Länderspiele auf dem Buckel. Und da waren Haudegen wie Sabitzer oder Arnautovic verletzungsbedingt nicht einmal dabei. Kein Wunder also, dass man auch angesichts der starken Gegner in der Vorrunde nicht in Angststarre verfällt. „Wir haben es uns erarbeitet, dass wir trotz der anspruchsvollen Gruppe fest daran glauben, weiterzukommen und ein tolles Turnier spielen zu können“, sagt Konrad Laimer. Und trifft damit den Geist der Mannschaft, die sich dieser Tage in Windischgarsten auf die EM einstimmt, perfekt.
Den Auftakt beim Turnier macht am 17. Juni Frankreich, gegen einen der Top-Favoriten des Turniers tritt man in Düsseldorf an. Bei den folgenden Spielen gegen Polen (21.) und die Niederlande (25.) genießt das ÖFB-Team eine Art Heimvorteil, denn das Basecamp, in dem Team und Staff während der EURO residieren, ist das „Schlosshotel Berlin“ im Stadtteil Grunewald, von dem aus die Anreise ins Olympia-Stadion kurz ist. Gutes Omen am Rande: Genau in diesem Quartier wohnte die deutsche Mannschaft bei der Heim-WM 2006 während ihres Sommermärchens.
Mit den Besten messen
Ein solches erhofft man sich jetzt auch in Österreich. Um sich dafür den letzten Feinschliff zu holen, bestritt das Team Testspiele gegen Serbien und die Schweiz. Denn auch das ist ein klar definierter Ansatz von Ralf Rangnick. Er will sich immer mit den Besten messen, um sich bestmöglich auf den Ernstfall vorzubereiten.
Denn zu einer EURO zu fahren, einfach nur um dem olympischen Motto „Dabei sein ist alles“ zu genügen, ist seine Sache nicht. „Wir wollen dort eine richtig gute Rolle spielen“, sagt er. Dafür hat er sich entschieden, in Österreich zu bleiben und seine Mission hier mit aller Kraft und Entschiedenheit fortzusetzen. Damit auch im Juli, wenn die K.o.-Phase der Europameisterschaft läuft, wieder Jubelschreie in Österreich zu vernehmen sind.