Totenkult: „Der Tod, das muss ein Wiener sein“

Überall auf der Welt gibt es eine bestimmte Form von Totenkult, das war bereits in der Antike so und hat sich bis heute nicht geändert. In Wien hat man allerdings einen ganz besonderen Zugang zum Sterben und dem Tod.

Dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, das wünschen sich viele. Die Bemühungen sind mitunter von vielfältiger Natur geprägt und das meiste erweist sich dann möglicherweise doch nicht nach Wunsch. Wenn allerdings der Wiener vom Tod spricht, diesen in der Literatur beschreibt oder im Lied besingt, dann verniedlicht er ihn oft, er macht ihn sich quasi zum Freund. 

Wer war der liebe Augustin?

Die Figur des lieben Augustin gilt dabei als Inbegriff dafür, dass man mit Humor alles überstehen kann. Bekanntlich war der trunkene Augustin der Sage nach in St. Ulrich eines Nachts für tot gehalten, in eine Pestgrube geworfen worden, überstand diese Episode aber erstaunlicherweise unbeschadet. In Wien stieg die Erzählung vom unverwüstlichen und mit Galgenhumor gesegneten Musikanten zu besonderer Popularität auf.

Maßgeblichen Anteil daran hatte das Buch „Alt-Wien in Geschichten und Sagen für die reifere Jugend“ von Moritz Bermann (1865), in dem die Wandersage mit dem bekannten Lied „Oh du lieber Augustin“ und einer realen Wiener Person des ausgehenden 17. Jahrhunderts, nämlich Augustin, der der erste Volkssänger Wiens gewesen sein soll, verbunden wurde. Ambros, Tauchen, Prokopetz haben die Geschichte des Wiener Volkssängers und seiner Freunde mehr als 100 Jahre später auf der LP „Augustin“ (1980) sehr unterhaltsam und mit einer augenzwinkernden Morbidität umgesetzt. 

Es lebe der Zentralfriedhof

Einige Jahre später erwies sich Werner T. Bauers „Wiener Friedhofsführer“ (1988) als sehr nützlich, um die Totenkultur der Stadt seriös zu ergründen. Neben der Beschreibung sämtlicher aufgelassener und existierender Wiener Begräbnisstätten geht Bauer wissenswerten Aspekten über den „letzten Gang“ nach, was mitunter sehr pittoresk anmutet.

So etwa, wenn Bauer daran erinnert, dass „die heute weit verbreitete Pietät auf Friedhöfen in der Vergangenheit von den Wienern durchwegs leutseliger und lustiger mit Kegel- und Kartenspiel oder großen Gelagen zwischen den Grabsteinen aufgefasst wurde“ – einerseits. Andrerseits entspricht, gerade wenn man an den Zentralfriedhof denkt, die Pietät einem Erholungsgebiet, wo Jogger ihre Runden drehen oder Radfahrer die langen schattigen Straßen hinunterrollen.

Diese letzte Ruhestätte ist nicht nur Europas zweitgrößte Friedhofsanlage, sondern gehört, wie immer wieder gesagt wird, mitten ins Herz des Wieners. Wolfgang Ambros und Joesie Prokopetz schrieben 1974 das Lied dazu – wir kennen es wohl alle – anlässlich des 100-Jahre-Jubiläums des Wiener Zentralfriedhofs. „Es lebe der Zentralfriedhof“, heißt es da, „und olle seine Toten. Der Eintritt is für Lebende heit ausnahmslos verboten. Weu da Tod a Fest heit gibt die gonze lange Nocht, und von die Gäst ka anziger a Eintrittskortn braucht.“ 

Mittlerweile feierte der rund 2,5 Quadratkilometer große Friedhof das 150-Jahre-Jubiläum, und da brauchte man manchmal durchaus Eintrittskarten, z.B. als die Wienerin Lisa Schmid mit ihrem ersten Soloprogramm „Kabarett Ehrengrab“ am Sargdeckel des Themas Tod kratzte. Auf dem Gottesacker, dem „Aphrodisiakum für Nekrophile“, wie ihn Andre Heller einmal nannte, wurden seit seiner Eröffnung rund drei Millionen Menschen bestattet.

Die Liste der Musik-, Kunst-, Literatur- und Wissenschaftsgrößen, die hier begraben sind, liest sich wie das „Who’s who“ der jeweiligen Szene: Beethoven, Brahms, praktisch die gesamte Familie Strauss, Schubert und Arnold Schönberg als Vertreter der Wiener Klassik bis zur Moderne der Orchesterkomposition. Friedrich Torberg und Arthur Schnitzler liegen nebeneinander in der Israelitischen Sektion. H.C. Artmann, Alban Berg, Thomas Bernhard, Falco, Elfriede Gerstl, Ernst Jandl, Hermann Leopoldi, Johann Nestroy, Helmut Qualtinger, Joe Zawinul – mehr als 1.000 Personen wurden ehrenhalber auf dem Zentralfriedhof bestattet. 

Für Namenlose und Kaiser

In Wien gibt es noch 45 weitere Friedhöfe mit insgesamt etwa 778.000 Gräbern, so unter anderem der jüngste Friedhof der Stadt, ebenfalls im 11. Bezirk, nämlich die Feuerhalle Simmering, die 1922 eröffnet worden ist. In Simmering, in der Nähe des Alberner Hafens, befindet sich zudem der „Friedhof der Namenlosen“. Die älteste noch erhaltene Wiener Totenstatt betritt man wiederum über das Seniorenwohnheim Rossau im 9. Gemeindebezirk. 1540 wurde dieser jüdische Friedhof in der Seegasse angelegt. Um die 350 Grabdenkmäler sind noch erhalten.

Und sogar einen Biedermeierfriedhof gibt es in Wien, den St. Marxer Friedhof. Dort erhielt Mozart ein Scheingrab. Wer schließlich das Besondere sucht, besucht die Kaisergruft bei der Kapuzinerkirche: Hier wurden 145 Habsburger nach altem Ritus in ihren prächtigen Särgen bestattet. Anders in der Michaelergruft: Neben hunderten zum Teil offenen Särgen liegen tausende Knochen und mumifizierte Leichen, die dem Ganzen eine schaurig-schöne Note verleihen. 

Morbid und doch charmant

Es ist ziemlich eindeutig: „Der Tod, das muss ein Wiener sein, genau wie die Lieb a Französin. Denn wer bringt dich pünktlich zur Himmelstür? Ja da hat nur ein Wiener das G‘spür dafür“, hat Georg Kreisler 1969 den Tod und Wien in einem Atemzug genannt und damit ein morbid-charmantes Denkmal gesetzt.

Tatsächlich ist es in Wien möglich, schon zu Lebzeiten im Wunschsarg Probe zu liegen, bevor man sich für ein Modell entscheidet. Eine Grabstelle kann ebenfalls auf 99 Jahre im Voraus gemietet werden, und auch die Art der Feier lässt sich planen. Und da ist es natürlich auch nur allzu logisch, dass es im Wienerischen ein Synonym für den Sarg als letztes Kleidungsstück gibt. Der Sänger und Komponist Roland Neuwirth hat 1980 darüber in „Ein echtes Wienerlied“ gesungen, ein Lied, das zur Gänze aus Bezeichnungen für das Sterben besteht. „Er hat an Abgang g’macht./Er hat die Patsch’n g’streckt./Er hat a Bank’l g’rissn./Er hat se niedag’legt./Er hat se d’ Erdäpfel von unt’ ang’schaut./Er hat se sozusagn ins Holzpyjama g’haut.“

AusgabeRZ44-2024

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