Unsere Gesellschaft wird zunehmend von sozialen Spannungen geprägt. Worin sehen Sie die Ursachen für diese soziale Härte und den Mangel an Empathie?
Nora Tödtling-Musenbichler: Es ist seit Jahren die Rede davon, dass die Gesellschaft gespalten ist, dass polarisiert wird. Das spüren wir auch selbst. Mir ist es aber wichtig zu betonen, dass in Österreich auch eine große Grundbasis an Solidarität herrscht. Was wir in diesen von Kriegen und Krisen geprägten Zeiten erleben, ist, dass wir stark mit Angst arbeiten, mit Erzählungen, die keine Hoffnung verbreiten und sich nur um Sorgen drehen. In der Bibel steht sehr oft der Satz „Fürchte dich nicht“, und er ist sehr wichtig für unsere Arbeit geworden. Als Menschen befinden wir uns in diesem Spannungsfeld zwischen Krieg und Frieden, zwischen Liebe und Hass, dass jemanden möglicherweise etwas zusteht, was mir selbst nicht zusteht. Wir sollten uns darauf besinnen, wie wir eine solidarische Gesellschaft gestalten können, die darauf ausgerichtet ist, dass jeder und jede die Möglichkeit auf ein gutes Leben hat.
Inwieweit hat sich Armut in den letzten Jahren verändert?
Tödtling-Musenbichler: Wenn ich Menschen sehe und mit ihnen spreche, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben und sich das Leben jetzt nicht mehr leisten können, dann macht mich das betroffen. Auch, weil es zeigt, dass sich Armut in Österreich verschärft. In den letzten Jahren hatten wir einen Zuwachs von 50 Prozent an Menschen, die Erstkontakte zur Caritas gesucht haben. Momentan haben wir in Österreich 365.000 Menschen, die von absoluter Armut betroffen sind, diese Zahl hat sich in einem Jahr um 130.000 Personen gesteigert. Wir leben in einem Sozialstaat, der zwar grundsätzlich vor Armut schützt, aber Lücken hat. Diese gehören geschlossen. Dazu brauchen wir eine Reform der Sozialhilfe wie eine Anhebung der Ausgleichszulage auf die Höhe der Armutsgefährdungsschwelle, aber auch gezielte Maßnahmen wie Energiekostenzuschuss, durch einen Grundtarif bei der Energie, damit Menschen, die jetzt von Armut betroffen oder gefährdet sind, nicht noch weiter hineinrutschen.
Vor allem alleinerziehende Frauen sind in Österreich stark von Armut betroffen. Welche Maßnahmen müssen gesetzt werden?
Tödtling-Musenbichler: Es ist tatsächlich so, dass zwei von drei Klienten bei unseren Sozialberatungsstellen und Lebensmittelausgabestellen Klientinnen sind. Frauen sind zwar die wahren Leistungsträgerinnen unserer Gesellschaft, sie übernehmen versteckt im Stillen die Sorgearbeit, erfahren dafür aber nicht die entsprechende Wertschätzung, Anerkennung und den gerechten Lohn. Es ist höchste Zeit, dass wir als Gesellschaft, insbesondere die Politik, dieses Ungleichgewicht ernst nehmen und handeln – nicht irgendwann, sondern jetzt! Wir brauchen dringend Maßnahmen, um diesen Gendergap zu schließen. Das fängt damit an, dass wir Carearbeit anerkennen und fair verteilen. Fair meint nicht, dass Frauen den Großteil übernehmen und es gibt dann eine Entschädigung. Ich spreche von halbe-halbe – in der Carearbeit, im Haushalt, in der Familie. Zweitens braucht es einen Ausbau von Betreuungsmöglichkeiten, sowohl im Kinderbetreuungsbereich als auch in der Pflegelandschaft. Gerade in frauenspezifischen Branchen gehören dringend die Gehälter erhöht und wir brauchen eine echte Lohntransparenz. Nur mit besseren Arbeitsbedingungen und höherer Entlohnung kann es gelingen, dass Frauen wirtschaftlich unabhängig werden und Altersarmut verhindert wird.
Ein wichtiges Thema in der Armutsbekämpfung ist das Recht auf Bildung.
Tödtling-Musenbichler: Was wir in unserer täglichen Arbeit aber auch anhand der Daten sehen, ist, dass Bildung ebenso wie Armut in Österreich vererbt wird. Gleichzeitig ist Bildung der Schlüssel, um aus der Armutsspirale herauszukommen. Das Problem ist, dass unser derzeitiges Bildungssystem diejenigen benachteiligt, die ohnehin schon schlechte Perspektiven haben. Kinder aus armutsbetroffenen Familien haben oft keinen ruhigen Platz zum Lernen, niemanden, der mit ihnen die Hausaufgaben macht, können sich keine Nachmittagsbetreuung leisten und haben weniger Chancen, Fördermaßnahmen in Anspruch zu nehmen oder Zugang zu Freizeitangeboten. Um Kinder von Anfang an auf die Bildungsreise mitzunehmen, braucht es, beim Kindergarten angefangen, Zugang zu Bildungseinrichtungen ebenso wie Gratis-Nachmittagsbetreuung, Lernangebote und auch Freizeitgestaltung.
Gerade in der Weihnachtszeit wird Armut für viele besonders spürbar. Spüren Sie eine Veränderung im Spendenverhalten?
Tödtling-Musenbichler: Auch wir merken, dass die Teuerung sich auf die Spendenhöhe und Spendenbereitschaft auswirkt. Gleichzeitig gibt es Menschen, die gerade jetzt ihre Spende nicht verringern, weil sie sagen, gerade jetzt müssen wir zueinanderstehen. Für mich drückt Martin Bubers Zitat „Der Mensch wird am Du zum Ich“ sehr schön aus, was Weihnachten sein sollte. Dass es um mehr geht als um einen selbst. Die katholische Soziallehre betont Solidarität, Gemeinwohl und Subsidiarität, wonach jeder Einzelne Verantwortung trägt. Hilfe kann klein anfangen, etwa durch Nachbarschaftshilfe, dass ich einen Geflüchteten begleite oder einer Frau helfe ihr Einkaufswagerl zu füllen. Wenn zu Weihnachten die Herzen aufgehen, freut uns das, es ist aber wichtig, dass es Menschen gibt, die unsere Projekte das ganze Jahr unterstützen. Zum Beispiel auch in Form von Sach- und Zeitspenden. Bei der Caritas engagieren sich rund 50.000 Freiwillige. Zudem unterstützen uns weitere 50.000 Menschen über unsere Involvierungsplattform „Füreinand“.
Wie kann die Caritas ihre Arbeit auch in Zukunft nachhaltig und effektiv fortzusetzen?
Tödtling-Musenbichler: Als Caritas orientieren wir uns an den SDGs. Wir leben von zwei Lungenflügeln, das ist zum einen die Hilfe für Menschen in Österreich, aber wir können nicht wegschauen, wenn es um Krisen und Kriege in anderen Ländern geht. Wir müssen uns um unser „gemeinsames Haus“ kümmern, wie Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Laudato Si“ betont hat. Um unsere Arbeit nachhaltig fortzusetzen, müssen politische Entscheidungen die Schwächsten schützen und nicht weiter belasten. Im Laufe der nächsten Jahre werden wir vermehrt damit konfrontiert sein, dass wir mehr daransetzen müssen, ein friedvolles Miteinander zu fördern.