Die Vereinten Nationen haben 2025 als Internationales Jahr der Genossenschaften ausgerufen. Was sind die Hintergründe, dass die Genossenschaftsidee bereits zum zweiten Mal nach 2012 das Hauptthema der UNO ist?
Johannes Rehulka: Genossenschaften sind die größte Bürgerbewegung der Welt. Mehr als eine Milliarde Menschen sind Mitglied in einer Genossenschaft – das sind etwa 12 Prozent der Weltbevölkerung. Weltweit gibt es rund drei Millionen Genossenschaften. Man muss sich diese Dimensionen vor Augen führen, um zu begreifen, welche Bedeutung unsere Genossenschaftsidee für den weltweiten Wohlstand hat. Die internationale Staatengemeinschaft in der UNO sieht Genossenschaften jedenfalls als Garant für die Schaffung von Wohlstand: Sie fördern regionales Unternehmertum, ermöglichen den Zugang zu Märkten und bekämpfen weltweit Armut sowie soziale Ausgrenzung. Insofern gestalten Genossenschaften eine bessere Welt – so lautet auch das Motto der Vereinten Nationen für dieses Jahr.
Welche Bedeutung haben Genossenschaften für Österreich?
Rehulka: Die Bedeutung von Genossenschaften für die Republik Österreich ist ungebrochen hoch. Durch ihre nachhaltige Ausrichtung und Investitionen vor Ort tragen Genossenschaften enorm zur wirtschaftlichen Entwicklung und damit zum Wohlstand einer Region bei. Der aktuelle Raiffeisen-Wertschöpfungsbericht bestätigt diesen volkswirtschaftlichen Stellenwert der regionalen Raiffeisen-Genossenschaften eindrucksvoll: Raiffeisen Österreich leistet mit 13,1 Milliarden Euro an gesamtwirtschaftlichem Beitrag mehr als die gesamte Gastronomie des Landes, sichert österreichweit 93.000 Arbeitsplätze und sorgt für eine jährliche Steuer- und Abgabenleistung von 3,7 Milliarden Euro. Doch neben diesem wirtschaftlichen Ist-Zustand verändert sich auch etwas in unserer Gesellschaft: Die Menschen wollen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen – ohne Bevormundung durch die öffentliche Hand oder staatlich gelenkte Institutionen. Das spielt natürlich dem genossenschaftlichen Gedanken der Eigenverantwortung und Selbstverwaltung stark in die Hände.
Ist das Genossenschaftsprinzip im digitalen Zeitalter noch zeitgemäß?
Rehulka: Die Bereitschaft der Menschen, gemeinsam Projekte vor Ort auf die Beine zu stellen, ist höher denn je. Gerade in Zeiten der Globalisierung und der zunehmenden Individualisierung wächst das Bedürfnis nach Nähe, Regionalität und Vertrauen. Insofern hat die UNO auch den richtigen Zeitpunkt erkannt, um Genossenschaften noch stärker ins internationale Rampenlicht zu rücken.
Welche Stärken bzw. Schwächen sehen Sie bei der genossenschaftlichen Rechtsform?
Rehulka: Rasche Entscheidungen vor Ort, die persönliche Nähe zu den Mitgliedern und Kunden sowie die regionale Verankerung sind sicherlich Stärken, um die uns unsere Konkurrenten nach wie vor beneiden. Ein vertrauensvolles Miteinander erfordert jedoch auch eine transparente Kommunikation auf Augenhöhe mit den Mitgliedern. Entscheidungen müssen daher vorbereitet und ausreichend diskutiert werden, was mehr Zeit in Anspruch nehmen kann. Das sehe ich jedoch nicht als Schwäche, sondern vielmehr als zusätzliche Stärke: Entscheidungen, die auf einer breiten demokratischen Basis getroffen werden, sind umso tragfähiger.
„Das Angebot ist da – nun müssen die Genossenschaften es aktiv nutzen.“
Johannes Rehulka
Die breite Öffentlichkeit weiß über die unterschiedlichen Vorzüge von Genossenschaften kaum Bescheid. Worauf führen Sie das zurück?
Rehulka: Unsere Marktforschungsergebnisse zeigen, dass nur etwa ein Drittel der Österreicherinnen und Österreicher über die Merkmale von Genossenschaften Bescheid weiß. Werden sie jedoch über die Vorzüge aufgeklärt, sagen viele, insbesondere jüngere Menschen: „Moment, das ist genau der Zugang, den ich mir von Unternehmen und Wirtschaftstreibenden erwarte.“ Daher müssen wir auch bei Raiffeisen unsere Art des Wirtschaftens stärker nach außen vertreten und darstellen. Mitarbeiter, Geschäftsleiter und Funktionäre müssen dafür werben, dass sich Menschen Raiffeisen-Genossenschaften anschließen. Der ÖRV hat das vergangene Jahr genutzt, um in einer eigenen Broschüre darzustellen, wie Mitglieder unsere Betriebe bewegen. Wir haben Best-Practice-Beispiele gesammelt, Tipps für Quick Wins gegeben und Leitfäden sowie Angebote für Workshops zum Thema Mitgliedschaft und Mitgliedergewinnung bereitgestellt. Das Angebot ist da – nun müssen die Genossenschaften es aktiv nutzen.
Welche Schwerpunkte wird der ÖRV zum Internationalen Jahr der Genossenschaften setzen?
Rehulka: Der ÖRV möchte gerade in diesem Jahr mit einer Informationskampagne den Boden aufbereiten, um die Vorteile der Genossenschaften aufzuzeigen. Dabei wollen wir auch zeigen, wie stark die Kraft unserer Gruppe Österreich bewegt. Diese Kampagne wird in wenigen Wochen starten und soll dazu beitragen, Wissensdefizite zu beseitigen und die genossenschaftliche Struktur von Raiffeisen in Erinnerung zu rufen. Darüber hinaus werden wir mit Veranstaltungen und einem Sozialbericht den positiven Beitrag von Genossenschaften für unsere Gesellschaft hervorheben. Für den Sektor stellen wir Kommunikationspakete für die Mitgliederinformation und für Generalversammlungen bereit. Raiffeisen-Mitarbeiter, die beim Thema Genossenschaft ein Update benötigen, werden in einem Online-Fortbildungsprogramm des Raiffeisen Campus ihre Kenntnisse auffrischen können.
„Je mehr Mitglieder eine Raiffeisen-Genossenschaft hat, desto erfolgreicher wird sie auch in Zukunft sein.“
Wie soll Raiffeisen junge Menschen für das Modell der Genossenschaft begeistern?
Rehulka: Gerade jüngere Menschen sprechen stark auf die Merkmale von Genossenschaften an: gemeinsam füreinander einzustehen, Verantwortung zu übernehmen und für die Region etwas zu bewegen, liegt voll im Trend. Wir bei Raiffeisen müssen bereit sein, diesen Ball aufzugreifen und die Mitgliedergewinnung noch aktiver zu gestalten. Viele Raiffeisenbanken und Lagerhäuser sind bereits sehr engagiert, aber wir müssen täglich neu darüber nachdenken, wie wir mehr Mitglieder gewinnen können. Je mehr Mitglieder eine Raiffeisen-Genossenschaft hat, desto erfolgreicher wird sie auch in Zukunft sein.
Welche politischen Rahmenbedingungen wären für mehr Genossenschaften förderlich?
Rehulka: Das Genossenschaftswesen sollte in den Gesetzen des digitalen Zeitalters ankommen. Eine volldigitalisierte Zeichnung eines Genossenschaftsanteils ist beinahe schon überfällig – aktuell ist tatsächlich noch eine handschriftliche Unterschrift erforderlich. Zudem wäre eine stärkere Berücksichtigung der Mitgliederförderung im Körperschafts- und Einkommensteuerrecht wünschenswert. Der aktuelle Gesetzesrahmen stellt für die Umsetzung des Förderauftrages manchmal eine Herausforderung dar.
Was soll im Rückblick vom Internationalen Jahr der Genossenschaften speziell für Raiffeisen Österreich in Erinnerung bleiben?
Rehulka: Die Raiffeisen-Gruppe in Österreich soll in der breiten Öffentlichkeit noch stärker mit den Werten von Genossenschaften in Verbindung gebracht werden. Außerdem wollen wir erreichen, dass mehr Menschen den Wunsch verspüren, bei Raiffeisen zu arbeiten oder sich zu engagieren. Dieses Jahr soll als Startpunkt für eine intensive Mitgliedergewinnung dienen.