Der Beginn des Zollkriegs hat die Börsen weltweit erschüttert. Viele Zölle sind noch Verhandlungsbasis – wie schwierig ist es für Analysten in so einer Phase?
Georg Zaccaria: Zuverlässige Prognosen sind in dem aktuellen Umfeld natürlich sehr herausfordernd, weil sich die zugrundeliegende Daten- und Informationsbasis so gut wie täglich ändert, sowohl bezüglich der damit verbundenen wirtschaftlichen Implikationen als auch hinsichtlich der Marktbewertung. Als Analysten sind solche Marktphasen zeitgleich natürlich auch sehr spannend und einer der Gründe, wieso wir unseren Job gerne machen. Wir denken, dass es in solchen Phasen wichtig ist, auf die damit verbundene Unsicherheit zu verweisen und verschiedene Szenarien durchzudenken, anstatt sich auf eine Meinung festzulegen.
Hat Geopolitik jemals schon so einen starken Einfluss auf die Marktvolatilität gehabt?
Zaccaria: Die massiven Intraday-Marktbewegungen zeigen, dass Handelspolitik noch selten so eine Auswirkung auf die globalen Kapitalmärkte hatte. Am US-Aktienmarkt war der Anstieg am 9. April beispielsweise die drittstärkste tägliche Bewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber auch die Volatilität am US-Staatsanleihenmarkt sucht über die letzten Dekaden seinesgleichen und brachte Trump zuletzt wohl zum Einlenken. Oftmals wird 1930 als Vergleich herangezogen, als die effektive Zollrate ein ähnliches Niveau hatte, wir rechnen jedoch mit keinem ähnlichen Szenario, da die USA einen deutlich geringeren Anteil an der globalen Wirtschaft ausmachen als damals (15–20 % vs. 45–50 %) und Zentralbanken bereitstehen Schlimmeres zu verhindern.
Welche Sektoren leiden besonders unter der neuen Handelspolitik?
Zaccaria: Aus EU-Perspektive heben wir ganz klar die Automobilindustrie hervor. Die 25-Prozent-Einfuhrzölle auf Fahrzeuge als auch Fahrzeugteile treffen die deutsche Automobilindustrie, die in der Vergangenheit ihre Produktion auf die NAFTA-Region fokussiert hat, besonders stark. Zwar gilt es auch hier Unterscheidungen zu treffen, je nach Preiselastizität, Marktanteil, Preissetzungsmacht, Importanteil an den US-Absätzen und dem gesamten Anteil des US-Markts an den Konzernabsätzen. Aber verschont bleibt keiner der Hersteller. Gleichzeitig sind jedoch auch US-Produzenten, aufgrund der stark verflochtenen Lieferketten in Nordamerika, betroffen. Investitionsentscheidungen in dem aktuellen Umfeld zu treffen, gestaltet sich ebenfalls als schwierig. Sinnbildlich für die vorherrschende Unsicherheit und fehlende Planbarkeit scheint Trump jetzt auch wieder etwas zurückzurudern. Er hat Ausnahmen für die Autoindustrie in Aussicht gestellt, um den Produzenten Zeit zu geben, die Kapazitäten in den USA aufzubauen und zeitgleich massive Preisanstiege abzufedern.
Handelspolitik hatte noch selten so eine Auswirkung auf die globalen Kapitalmärkte.
Georg Zaccaria
Die USA haben auch 25-Prozent-Zölle auf Stahl- und Aluminiumerzeugnisse eingeführt. Welche Auswirkungen haben diese?
Zaccaria: Auch wenn hier das US-Stahlpreisniveau den Effekt bereits überkompensiert. Generell denken wir, dass hier der Endkonsument und die metallverarbeitenden Industrien angesichts der Importabhängigkeit der USA für Stahl und Aluminium am kürzeren Hebel sitzen.
Gibt es noch weitere große Verlierer der US-Zollpolitik?
Zaccaria: Auch die Technologie- oder Retailindustrie sieht sich mit höheren Kosten konfrontiert, da viele der asiatischen Länder als Produktionsstandorte dienen. Ebenfalls zu beobachten gilt es die weitere Entwicklung bei Seltenen Erden. Hier dominiert China den globalen Weltmarkt und könnte mit Vergeltungsmaßnahmen reagieren. Vor diesem Hintergrund steht auch der Mineralien-Deal mit der Ukraine und die Interessen Trumps an Grönland im Fokus. Denn Seltene Erden sind neben E-Motoren und bei Windturbinen auch für militärische Anwendungen essenziell.
Raiffeisen Research hat am 13. März einen Sektorüberblick publiziert. Hat es seit dem 2. April Anpassungen gegeben?
Zaccaria: Wir halten an unseren Ausblicken vorerst fest. Wir hatten natürlich bereits vorab den potenziellen Effekt der Zölle versucht abzuschätzen und in unseren Ausblicken miteinfließen lassen. Darüber hinaus gestaltet sich das aktuelle Umfeld so volatil, dass bereits morgen wieder alles anders sein könnte. Man darf nicht vergessen, dass abseits der Zollthematik das wirtschaftliche Umfeld für einige Industrien, trotz aller Risiken, aufgrund des angekündigten Infrastrukturpakets in Deutschland und den erhöhten Verteidigungsausgaben, sowie einem etwaigen Friedensabkommen in der Ukraine, positiver einzustufen ist, als das noch vor einigen Monaten der Fall war. Hier heben wir die Bau- und Baumaterialienindustrie, Stahl und Aluminium als auch das verarbeitende Gewerbe an sich als positiv hervor.
Einziger von Raiffeisen Research als positiv eingestufter Sektor war damals Pharma, ein Bereich, für den Trump seit Anfang der Woche auch Zölle prüfen lässt.
Zaccaria: Aus unserer Sicht ist der Sektor für diese Turbulenzen besser gewappnet als andere und wir denken weiterhin, dass Pharma einer der Sektoren sein wird, der langfristig stärker auf Produktionsverlagerungen setzt. Der Sektor ist deutlich US-exponierter als andere und hat relativ niedrige Produktionskosten. Beides macht Produktionsverlagerungen attraktiver, ohne wesentliche Auswirkungen auf die Profitabilität. Novartis macht bereits den Anfang und hat Investitionen in Produktions- und F&E-Standorte in den USA in Höhe von 23 Mrd. US-Dollar angekündigt. Solche Produktionsverlagerungen dauern jedoch Jahre. Kurzfristig gehen wir davon aus, dass die Zölle zwar von den Konsumenten gezahlt werden müssten. Aufgrund von Preiselastizitäten bei Pharmaprodukten und den hohen Fixkosten gehen wir jedoch von einem globalen Umsatzrückgang der großen europäischen Pharmakonzerne in der Größenordnung von minus 1,7 Prozent und einen Gewinnrückgang in der Größenordnung von minus 5 Prozent aus.
Gibt es Sektoren, die aus heutiger Sicht als „Gewinner“ hervorgehen könnten?
Zaccaria: Wir sehen hier die Bauindustrie – inklusive Baumaterialien – und insbesondere den Infrastrukturbau als Gewinner von den erhöhten Infrastrukturausgauben in Deutschland. Insbesondere Unternehmen mit Fokus auf Europa und Deutschland sollten klarerweise profitieren. Andere verbundene Industrien wie Stahl und Maschinenbau könnten direkt als auch indirekt ebenfalls positive Nachfrage verzeichnen, wenngleich keine unmittelbaren Effekte zu erwarten sind. Der Ausbau von erneuerbaren Energien könnte Aluminium, Kupfer und Stahl zugute kommen, da erneuerbare Energiequellen eine deutlich höhere Intensität aufweisen im Vergleich zu fossilen Quellen. In der Verpackungsindustrie könnten Hersteller von Kraftpapier von der erhöhten Nachfrage nach Zement profitieren. Investitionen in digitale Infrastruktur sollte längerfristig auch die Stromnachfrage unterstützen und damit positiv für den Versorgersektor sein. Von den erhöhten Verteidigungsausgaben der EU als auch von Deutschland sollte neben der Rüstungsindustrie per se auch die Metall- und Bergbauindustrie als auch der Maschinenbau profitieren.
Die Unsicherheit ist weiterhin groß: Welche Faktoren könnten wieder Beruhigung bringen? Reicht eine Aufschiebung der Trump-Zölle um 90 Tage, damit Anleger wieder nachhaltig Vertrauen in die Märkte gewinnen?
Zaccaria: Die Unsicherheit und Volatilität wird auch trotz der vorerst aufgeschobenen Zölle erhöht bleiben. Als wichtigster Faktor gilt es, die Entwicklungen zwischen den USA und China sowie der EU zu verfolgen. Die EU hat bereits eine de-eskalierende Herangehensweise und Bereitschaft zur Verhandlung – wenn auch nicht zu jedem Preis – angedeutet, während der Handelskrieg zwischen den zwei größten Volkswirtschaften der Welt derzeit zu eskalieren scheint. Eine nachhaltige Einigung wird ausschlaggebend sein, um das Risiko einer Rezession in den USA und eines globalen Abschwungs eindämmen zu können und damit auch maßgeblich für eine Beruhigung an den Märkten. Wir gehen von einer erhöhten Volatilität über die nächsten drei bis sechs Monate aus, während sich das Sentiment auf 9 bis 12 Monate wieder etwas aufhellen könnte.