2022 war ein Jahr der multiplen Krisen und starker wirtschaftlicher Verwerfungen. Wie lautet Ihr Resümee?
Markus Mühleisen: Ich habe während der Corona-Pandemie die Führung der Agrana übernommen. Schon damals war klar, dass wir einiges zu bewältigen haben werden. In diesen eineinhalb Jahren standen wir vor enorm viel außergewöhnlichen Herausforderungen. Steigende Rohstoff- und Energiepreise, die durch den verheerenden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nahezu explodiert sind, Lieferkettenschwierigkeiten und eine Zinswende waren nur einige der Top-Themen, die nicht nur mich beschäftigten.
Trotz der rauen Gegenwinde legte der Umsatz in den ersten drei Quartalen 2022/23 um mehr als ein Viertel zu und das operative Ergebnis um fast 80 Prozent. Wie bewerten Sie die Geschäftsentwicklung?
Mühleisen: Wir mussten auch heuer vor allem aufgrund des Ukraine-Krieges im zweiten Quartal 91 Millionen Euro zahlungsunwirksame Wertminderungen auf Assets und Goodwill außerordentlich abschreiben. Insgesamt haben wir bisher rund 160 Millionen abgeschrieben. Das belastet uns natürlich sehr. Nichtsdestotrotz sind wir mit dem starken dritten Quartal auch beim Nettoergebnis nun aus dem roten Bereich gekommen. Alle drei Segmente haben zur Geschäftsentwicklung gut beigetragen. Geprägt ist das laufende Geschäftsjahr vor allem vom Turnaround im Zucker-Segment.
Was würden Sie in diesem Ausnahmejahr herausstreichen?
Mühleisen: Agrana ist insgesamt sehr, sehr gut aufgestellt und diversifiziert. Gerade in Krisenzeiten zeigt sich die Stärke des Portfolios und der Mannschaft. Wir waren zu jedem Zeitpunkt lieferfähig und haben unseren Kunden gezeigt, dass auf uns Verlass ist. Mit hoher Professionalität und starkem Einsatz sind wir durch das mehr als herausfordernde Jahr 2022 gekommen. Und gleichzeitig ist es uns gelungen, auch unsere finanzielle Performance nicht außer Acht zu lassen.
Das Zuckergeschäft hat nach dem Auslaufen der Europäischen Zuckerordnung und einer vierjährigen Durststrecke nun wieder zu alter Stärke gefunden. Was waren die Treiber dafür?
Mühleisen: Das Segment ist wieder profitabel, weil sich einerseits der Preis deutlich erholt hat und wir auch Maßnahmen ergriffen haben, um effizienter zu werden. Der Fokus liegt bei uns nun noch stärker auf dem Retailbereich und den Spezialitäten. Wir sind in vielen Ländern Marktführer und können uns da auch besser differenzieren. Allein unter der Marke Wiener Zucker haben wir über 30 Spezialitäten am Markt. Das ist ein ganz, ganz wichtiger Hebel. Darüber hinaus haben wir auch die Kosten optimiert und so sozial wie möglich die Mitarbeiterzahl reduziert.
2020 wurde ein dreijähriger Zuckerpakt geschnürt, um die Auslastung der beiden Zuckerfabriken in Österreich – Tulln und Leopoldsdorf – abzusichern. Wie geht es da weiter?
Mühleisen: Wir sind noch mitten in den Kontrahierungen für die nächste Kampagne. Es sieht danach aus, als würden wir auf die angestrebte Rübenanbaufläche von 38.000 Hektar kommen. Ich bin zuversichtlich, dass uns dies gelingt. Der aktuell gute Rübenpreis hilft da natürlich, auch wenn wir uns mehr erhofft hatten. Wir werden uns künftig von Jahr zu Jahr genau anschauen, ob wir in Österreich zwei Zuckerfabriken betreiben können. Dafür braucht es eben eine kritische Größe an Rüben. Neben der Menge spielen auch der Zuckergehalt und weitere Parameter eine Rolle.
Das Stärke-Segment machte im Vorjahr wahrscheinlich die meiste Freude. Was waren die bestimmenden Faktoren dafür?
Mühleisen: Unser Stärke-Segment hat gerade im dritten Quartal seine Resilienz bewiesen. Der Preis für Bioethanol hat bis zum Halbjahr für einen kräftigen Rückenwind gesorgt. Dieser hat sich nun in einen leichten Gegenwind entwickelt, weil die Verkaufspreise deutlich nachgelassen haben, die Energie- und Rohstoffkosten gestiegen sind. Das Abflachen im Bioethanol-Geschäft wurde allerdings durch den Weizengluten kompensiert, der sehr stark performt hat. Unterm Strich blieb in den ersten neun Monaten ein Umsatzplus von knapp 34 Prozent und auch der operative Gewinn (EBIT) legte um über ein Viertel zu.
Im Frucht-Geschäft machen Ihnen die Abschreibungen in der Ukraine zu schaffen. Wie sieht es in dem Bereich aus?
Mühleisen: Zwar legte der Umsatz in dem Segment um 16,6 Prozent deutlich zu. Die mengenmäßig gute Apfelkampagne 2022 wird auch in den nächsten Monaten zu weiterhin starken Ergebnissen im Fruchtsaftkonzentratgeschäft führen. Aufgrund der erwähnten außerordentlichen Abschreibungen im zweiten Quartal wurde operativ ein Verlust von 51,6 Mio. Euro erzielt. Neben dem Krieg in der Ukraine und den Verwerfungen an den Energie- und Rohstoffmärkten lösten vor allem rasant steigende Kapitalkosten bereits zum Halbjahresstichtag eine Werthaltigkeitsprüfung für die Cash Generating Unit Frucht aus.
Wie sieht es in der Ukraine aus?
Mühleisen: Die Aufrechterhaltung der Produktion in unserem Werk in Winnyzja, südwestlich von Kiew, ist weiterhin eine Herausforderung. Zu den logistischen Herausforderungen bei der Besorgung von Vorlieferungen, aber auch bei der Lieferung an Kunden sind nun auch Schwierigkeiten in der Energieversorgung dazugekommen. Wir haben zwar Notstrom-Aggregate besorgt, aber damit kann man nicht die komplette Produktion aufrechterhalten.
Agrana ist auch in Russland vertreten. Wie sieht die Lage dort aus?
Mühleisen: Auch dort bewerten wir die Lage laufend neu. Wir produzieren essenzielle Grundnahrungsmittel und spielen damit für die russische Bevölkerung eine gewisse Rolle. Außerdem haben wir auch eine Verantwortung für unsere Mitarbeiter und Kunden im Land. Die Geschäftstätigkeit wird dort aber zunehmend schwieriger, auch aufgrund der vielfältigen Sanktionen – Stichwort Ersatzteile für Maschinen.
Der Krieg hat vor allem beim Energiethema für massive Unsicherheiten gesorgt. Wie haben Sie darauf reagiert?
Mühleisen: Wir haben sehr frühzeitig bereits im März des Vorjahres die Entscheidung getroffen, bei unseren westeuropäischen Standorten so weit möglich den Einsatz von Heizöl Leicht vorzubereiten, um die Produktion abzusichern, und dafür rund zehn Millionen Euro investiert. Mittelfristig forcieren wir im Rahmen unserer Klimastrategie den Einsatz von erneuerbaren Energien wie Biogas, Wärmepumpen und Photovoltaik.
Neben zahlreichen Herausforderungen wurde im Vorjahr auch noch ein Strategieprozess gestartet. Gibt es schon erste Erkenntnisse?
Mühleisen: Wir sind noch im Prozess, befinden uns im letzten Drittel und wollen unsere längerfristigen Überlegungen bis zur Jahresmitte präsentieren. Wir haben angesichts der zahlreichen Schwierigkeiten im Vorjahr auch bewusst das Tempo herausgenommen. Einige Erkenntnisse setzen wir aber auch schon um. Im Fokus der Strategie steht die Schärfung und Stärkung des Kerngeschäftes, um dessen Potenzial noch mehr auszuschöpfen. Da haben wir noch ausreichend Möglichkeiten, die wir bisher noch nicht genutzt haben.
In welche Richtung soll es gehen?
Mühleisen: Der Strategieprozess hat uns wieder einmal die Stärken von Agrana aufgezeigt, auf denen wir aufbauen können. Dazu zählt das diversifizierte Portfolio, das uns auch bei einem sich ändernden Konsumverhalten ausreichend Stabilität gibt. Zudem haben wir einen guten Zugang zur Rohstoffbeschaffung und sind auch bei der Verarbeitung effizient aufgestellt. Und der Bedarf nach Transparenz, wo unsere Nahrungsmittel herkommen, steigt immer mehr – aufgrund der Nachhaltigkeit, aber auch von Konsumentenseite her. Und unsere dritte Stärke ist, dass wir bereits heute Zugang zu allen wichtigen Kunden auf lokaler, regionaler und auch globaler Ebene haben. Darauf werden wir aufbauen. Näheres dazu wollen wir um die Jahresmitte präsentieren.
Wo sehen sie Verbesserungspotenzial?
Mühleisen: Wenn man sich die letzten fünf Jahre anschaut, dann haben wir uns zuletzt zwar verbessert, aber nicht konsistent gute Ergebnisse abgeliefert. Wir müssen daher daran arbeiten, beim Ergebnis stabiler zu werden. Effizienz wird dabei immer wichtiger. Und auch die Aktionäre sind an einer stabilen Dividende interessiert. Das wird angesichts der wohl bleibenden höheren Volatilität am Markt, die wir besser managen müssen, eine Herausforderung. Dazu ist es notwendig, auch durch Chancen, die sich aufgrund von Veränderungen wie den Klimawandel bieten, gut zu nutzen. Etwa beim Thema Rohstoffbeschaffung und Verarbeitung können wir unseren Kunden noch mehr Service bieten. Es könnte sich die Chance bieten, dass wir beim Produktportfolio von unserer guten Ausgangsbasis weiter in der Wertschöpfungskette vorangehen könnten.
Was ist bisher bei den Strukturen passiert?
Mühleisen: Wir haben den Vorstand verkleinert und die Entscheidungsprozesse beschleunigt. Zudem übernimmt nun jedes Vorstandsmitglied auch operative Verantwortung. Und wir haben auf den darunter liegenden Ebenen ebenfalls die Anzahl der Führungskräfte reduziert, also insgesamt den Konzern verschlankt. Das ist ein ganzer Strauß an Maßnahmen, um Agrana moderner, globaler, agiler und flexibler aufzustellen. Es wird also an vielen Rädern gedreht.
Ein Zukunftsthema für die nächsten Jahrzehnte ist und bleibt wohl die Nachhaltigkeit. Wie kommen Sie da voran?
Mühleisen: Wir leisten hier einige Pionierarbeit, etwa bei der Erhebung von Rohdaten aus der Landwirtschaft. Wenn man den eigenen ökologischen Fußabdruck berechnen will, muss man zum Beispiel wissen, wie viel CO2 agrarische Rohstoffe in der Urproduktion verursachen. Solche Daten gibt es in Österreich allerdings nicht und Vergleichswerte aus anderen Ländern passen aufgrund der klimatischen Verhältnissen nur bedingt.
Welche neuen Impulse setzen Sie für das Produktportfolio?
Mühleisen: Innovationen voranzubringen, spielt eine ganz große Rolle in der Lebensmittelindustrie. Vor allem im Bereich Fruchtzubereitungen wird an der Weiterentwicklung von Produkten gearbeitet, etwa für pflanzenbasierte Joghurts. Hier gibt es Lösungen für Kunden, die ihr Joghurt selbst herstellen und von uns die Fruchtzubereitung einkaufen. Aber wir sind auch in der Lage, das ganze Joghurt zu produzieren, gepaart mit bestimmten funktionalen Benefits wie geringeren Zuckereinsatz. Hier steht uns ein ganzes Baukastensystem zur Verfügung, das wir unseren Kunden anbieten und auch laufend erweitern.
Nach so einem Jahr wie 2022 kann der Ausblick nur besser werden, oder?
Mühleisen: Derzeit deutet vieles darauf hin, dass 2023 besser wird als befürchtet. Allerdings werden uns die Unsicherheiten und höheren Preise weiter begleiten. Dennoch sollten sich heuer die Volatilitäten auf den Märkten beruhigen. Die Auswirkungen der Inflation auf das Konsumklima bereiten noch gewisse Sorgen. Nichtsdestotrotz bin ich zuversichtlich für das noch junge Jahr 2023, auch weil wir schon vieles im Vorjahr auf den Weg gebracht haben und die krisenhafte Entwicklung hoffentlich an Intensität verliert. Wir sollten alles in allem heuer doch wieder in ruhigere Fahrgewässer kommen.