„Zum Genießen fehlt mir die Ausdauer“

Olympiasiegerin, Österreicherin des Jahres und seit Kurzem auch Raiffeisen-Sportlerin. Rad-Shootingstar Anna Kiesenhofer blickt auf ein erfolgreiches Jahr zurück, in dem sie ganz neue Seiten an sich entdeckte und froh war, zu der einen oder anderen Verrücktheit gezwungen zu werden.

Sie haben Ende Oktober auf Instagram gepostet, sich für einige Zeit aus dem öffentlichen Trubel rausnehmen zu wollen. Stören wir Sie beim Genießen der Off-Season?
Anna Kiesenhofer: Die Off-Season ist schon vorbei, ich war eine gute Woche in den Bergen, habe dort abgeschaltet. 

Haben Sie eher das verrückte Jahr Revue passieren lassen oder Pläne für die Zukunft geschmiedet?
Kiesenhofer: Beides. Nachdem was passiert ist, wollte ich schauen, wo es hingehen soll. Es überwiegt die Genugtuung, diesen großen Sieg errungen zu haben nach so vielen Jahren harter Arbeit. Ich hatte ja auch schon vorher gute Ergebnisse, aber keine, die weltweit bedeutend wären. Ich finde es richtig cool, einen großen Erfolg zu haben, der auch außerhalb meines eigenen Tellers relevant ist.

Wann geht es sportlich wieder los?
Kiesenhofer: Mein Körper soll frisch sein, wenn es darauf ankommt. Jetzt ist es eine Art Erhaltungstraining, um die 15 Stunden die Woche, eher locker und zum Spaß. Anfang des kommenden Jahres wird es wieder intensiver werden.

Sie sind als Mathematikerin bekannt, die lange nur „nebenbei“ und als Amateurin trainiert hat. Wenn Sie jemand, der Sie nicht kennt, nach Ihrem Beruf fragt – was antworten Sie?
Kiesenhofer: Heute sage ich: Profisportlerin. Vor Tokio hätte ich gesagt: Mathematik-Forscherin. Je nachdem, wer gefragt hätte, hätte ich den Sport wahrscheinlich nicht einmal erwähnt. Aktuell ist für die Forschung keine Zeit, das ist nebenher nicht machbar. Ich kann nicht sagen: Ich forsche jetzt nur noch zwei Stunden am Tag. Dann kommt man nicht voran. Ich konzentriere mich jetzt vollständig auf den Sport, mache das zu meinem beruflichen Standbein. Das kostet viel Zeit und Konzentration.

Dabei haben Sie doch nie angestrebt, eine reine Profisportlerin zu sein.
Kiesenhofer: Es kommt auf die Umstände an. Normalerweise ist es so: Wenn du als Radsportlerin Profi sein willst, musst du in einem Team sein. Diese Erfahrung hatte ich schon, das ist nichts für mich. So wie jetzt, wo ich als Individualsportlerin Profi bin, mir meine Sponsoren selbst aussuchen und auch in sportlicher Hinsicht freie Entscheidungen treffen kann, passt es mir ganz gut. Ich bin die Herrin meiner Dinge. Ich habe das früher nicht angestrebt, weil mir der Erfolg fehlte, um Sponsoren zu finden. Für ein paar Cent hier und da möchte ich nicht meine Freizeit opfern, um Instagram & Co. zu pflegen. Jetzt ist das anders, nun ist das Verhältnis Input/Output deutlich besser.

Nach dem Olympiasieg dürften die Top-Teams bei Ihnen Schlange gestanden sein. Und Sie würden sich einiges an administrativer Arbeit sparen.
Kiesenhofer: Alles hat seinen Preis. Ein Team kümmert sich ums Material, ich bekomme ein Rad hingestellt. Wenn ich aber damit nicht zufrieden bin und ein anderes Rad will, geht es nicht so leicht. Ich bin da „leider“ recht anspruchsvoll. Doch genau dieser Ansatz hat mich zum Erfolg geführt. Oder nehmen wir den Rennkalender. Ein Profiteam will, dass ich, sagen wir, 30 Rennen im Jahr fahre. Das geht aber auf Kosten der einzelnen Resultate. Ich konzentriere mich lieber auf wenige Rennen, die ich dafür aber gut absolviere.

Können Sie als Olympiasiegerin überall starten, wo Sie wollen?
Kiesenhofer: Kommt drauf an. Es gibt schon Rennen, bei denen du nur mitmachen kannst, wenn du bei einem World-Tour-Team engagiert bist. Die Tour de France der Frauen zum Beispiel, da kann man sich nicht hinstellen und sagen: Da fahre ich jetzt mit. Nicht mal als Olympiasiegerin. Es gibt aber genügend andere Rennen, die mich interessieren.

Was sind Ihre Meilensteine für 2022?
Kiesenhofer: Ich bin gerade dabei, einen Rennplan zu schmieden, der mir gefällt, der aber auch ein gewisses Marketingpotenzial für meine Sponsoren hat. Was mich auf jeden Fall reizt sind die WM (Anm.: im September in Australien) und die EM (August in München), vor allem im Einzelzeitfahren. Dort sehe ich noch Potenzial für mich. Dazu ein paar Rennen in Österreich, Bundesliga, Staatsmeisterschaften. Und den einen oder anderen Rad-Marathon.

Zu Ihren Sponsoren gehört seit Kurzem auch Raiffeisen. Wie kam der Deal zustande?
Kiesenhofer: Mein Management war in Kontakt mit Raiffeisen, das hat dann relativ schnell zu einem Ergebnis geführt. Unmittelbar nach meiner Wahl zur „Sportlerin des Jahres“ haben wir es kommuniziert. Raiff­eisen ist ja dafür bekannt, viele Sportler auf verschiedenen Ebenen zu unterstützen. Ich bin sehr froh, dass es geklappt hat.

Anna Kiesenhofer mit Giebelkreuz
Die Raiffeisen Bank International ist ihr neuer Sponsor. (c) RBI

Kommen wir zum 25. Juli, dem Tag Ihres Olympiasieges. Hat der Ihr Leben auf den Kopf gestellt?
Kiesenhofer: Kommt auf die Definition an. Wenn wir es definieren als „eine starke Veränderung mit etwas Chaos, bei der man nicht mehr alles unter Kontrolle hat“… dann ja! Eine solche Situation konnte niemand vorausplanen. Es ist aber auch lustig. Wenn man aus dem Gleichgewicht geworfen wird, kommt man auf ganz neue Ideen und macht plötzlich Dinge, die man sich vorher nicht getraut hätte. Ich finde das positiv.

Wirklich? Sie wirken wie jemand, der die Zügel gerne in der Hand hat. Sie mussten sich also auf ein Abenteuer einlassen.
Kiesenhofer: Stimmt schon. Aber ich wäre freiwillig wohl nicht solche verrückten Wege gegangen, deswegen war es gut so. Ich hätte mich zum Beispiel nicht getraut, meine Uni-Karriere aufzugeben, zumindest temporär, um mich voll auf den Sport zu konzentrieren. Da war es positiv, das Gleichgewicht zu verlieren.

Gibt es eine Kehrseite der Olympia-Medaille?
Kiesenhofer: Ich finde es manchmal schon schwierig, diese intellektuelle Seite hinter mir zu lassen. Es ist lästig, am Abend zu sagen: Heute habe ich fünf Stunden damit verbracht, meine Social-Media-Aktivitäten zu organisieren. Dann habe ich das Gefühl, mein intellektuelles Potenzial nur unzureichend eingesetzt zu haben. Ich sehe das jetzt als Phase.

Mit dem Abstand einiger Monate: Was hat an diesem 25. Juli so genau gepasst, so dass Sie diese Sensation schaffen konnten?
Kiesenhofer: Es waren mehrere glückliche Umstände, zum Teil Kleinigkeiten, die in Summe zu diesem Riesenerfolg geführt haben. Zum Beispiel das Wetter: Ich komme mit Hitze gut klar, es war ein heißer Tag. Bei Regen hätte es anders ausgeschaut. Oder dass wir Rückenwind hatten, was eine kleinere Gruppe von Fahrern im Vergleich zum Feld bevorzugt. Entscheidend waren aber zwei andere Dinge.

Und zwar?
Kiesenhofer: Das Feld hat mich unterschätzt und mir viel zu viel Vorsprung gelassen. Und ich war körperlich stark, habe eineinhalb Jahre auf diesen Tag hintrainiert. Ich war in der Form meines Lebens. Das wusste aber niemand außer mir selbst. Medial wurde teilweise transportiert, als ob ich nur Glück gehabt hätte. Das ärgert mich etwas. Ohne meine physische Stärke hätte es nie zu dem Sieg kommen können.

Ein ganz so unbeschriebenes Blatt, wie es immer hieß, waren Sie ja nun auch nicht. Warum wurden Sie so unterschätzt?
Kiesenhofer: Ich habe mich oft gefragt, warum die starken Niederländerinnen den Abstand zu mir so groß werden ließen. Man hätte mich ja nur googeln müssen, um zu wissen, dass ich auf internationaler Ebene ein paar Erfolge hatte oder Staatsmeisterin war. Man hätte meine Stärke einkalkulieren können, wenn man meine Vita auf dem Schirm gehabt hätte. Zum Glück war das nicht der Fall.

Auf Ihrer Homepage geben Sie drei überraschende Eigenschaften von sich preis. Sie sagen zum Beispiel, Sie seien minimalistisch.
Kiesenhofer: Das gilt für den Alltag, nicht fürs Training. Ich finde manche Dinge einfach überflüssig, zum Beispiel, mich zu schminken. Oder bei der Kleidung. Ich halte es da mit Steve Jobs, der auch keine Zeit damit verschwenden wollte, sich über sein Outfit Gedanken zu machen.

Das Zweite: introvertiert. Können Sie die vielen Ehrungen und Galas überhaupt genießen?
Kiesenhofer: Das ist recht lustig. Es gibt Momente, wo ich es kurz genieße, aber mir fehlt dann die Ausdauer. Wie bei der Sportler-Ehrung: Ich wollte sie unbedingt gewinnen, war auch richtig happy. Doch nach einer Stunde hat es mir gereicht, dann wäre ich am liebsten wieder gegangen.

Drittens: Attracted by the uncommon, also angezogen vom Ungewöhnlichen.
Kiesenhofer: Mein ganzer Lebenslauf ist etwas untypisch. Wenn alle etwas machen, führt es dazu, dass ich es nicht machen will. Das war schon in der Schule so. Niemand mochte Mathe und Latein. Und was waren meine Lieblingsfächer? Mathe und Latein. Ich suche etwas, von dem sich die Masse fernhält.

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