Emerging Markets vor dem Comeback

Mit der Rückkehr Chinas als treibender Konjunkturmotor rücken die Schwellenländer wieder verstärkt in den Fokus von Anlegern. Wie sich Europa und die USA im neuen Wirtschaftsumfeld nach der Zäsur im Vorjahr behaupten, analysieren Raiffeisen-Experten.

Eine Weltkugel wird umspannt von Aktienkursen
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Am Finanzmarkt hat das Wendejahr 2022 mit einer historisch hohen Inflation, der vollzogenen geldpolitischen Kehrtwende sowie der globalen konjunkturellen Abkühlung die Karten bei der Veranlagung neu gemischt. Die großen Wirtschafts- und Kapitalmarkträume, allen voran Europa, die USA und die Emerging Markets, sind dabei unterschiedlich positioniert.

Vor allem die Emerging Markets haben in der Vergangenheit oft enttäuscht, weil selbst ein hohes Wirtschaftswachstum nicht immer auch zu hohen Kursgewinnen geführt hat. 2023 haben die Schwellenländer, angeführt von China, aber wieder gute Chancen, andere Investmentregionen outzuperformen. „China spielt in den Emerging Markets bei Weitem die Hauptrolle. Der Konjunkturzyklus ist dort zeitlich vorverschoben. Aufgrund der autoritären Null-Covid-Politik schwächte sich die wirtschaftliche Entwicklung in den letzten Jahren ab. Jetzt hat sich China von dieser Linie verabschiedet“, erklärt Kurt Schappelwein, Leiter der Abteilung Multi Assets der Raiffeisen KAG. Daher werde für China heuer ein höheres Wachstum prognostiziert als 2022. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet heuer ein BIP-Plus von 5,2 Prozent und damit deutlich mehr als noch im Vorjahr mit 3 Prozent.

Das ist in Europa und den USA genau umgekehrt, wo sich die Konjunkturdynamik abschwächt bzw. schwächelt. Die Wirtschaftsleistung der EU legte im Vorjahr der EU-Kommission zufolge um 3,5 Prozent zu und dürfte sich heuer auf 0,8 Prozent deutlich abkühlen, während in den USA das BIP 2022 laut Raiffeisen Research um 1,7 Prozent zulegte und heuer wahrscheinlich mit 0,3 Prozent leicht wachsen könnte. 

Attraktive Bewertung

Der konjunkturelle Rückenwind sollte auch den chinesischen Aktienmarkt beflügeln. Dazu komme, dass sich China in den vergangenen Jahren eher unterdurchschnittlich entwickelt habe, was zu attraktiven Bewertungen geführt habe. „Wir sehen diese Entwicklung insgesamt im ganzen Segment Emerging Markets, aber auch ganz besonders in China“, führte der Raiffeisen-KAG-Experte aus. Bewertungen für sich alleine seien selten ein Auslöser für eine Outperformance, aber wenn auch wirtschaftliche Impulse dazukommen, dann werden Anleger sehr schnell auf wirtschaftliche Vorteile aufmerksam. Im Fokus der Emerging Markets stehen neben China insbesondere Taiwan, Südkorea und Indien. „Diese Länder haben gemeinsam, dass sie einen sehr starken Wachstumsanteil am Aktienmarkt und einen starken Technologieanteil haben“, so Schappelwein. 

Ins Bild eines möglichen Comebacks der Schwellenländer passt auch, dass die Technologie-Werte im Vorjahr unterperformt haben, was zum Teil an den steigenden Zinsen lag, die den Unternehmen nicht gutgetan haben. Die optimistischen Erwartungen für die Emerging Markets teilt auch Christian Hinterwallner, Leiter der Aktienanalyse bei Raiffeisen Research. Auch wenn der Ölpreis von den Höchstständen des Vorjahres substanziell entfernt ist, dürfte er sich auf ein Niveau einpendeln, bei dem die Energiekonzerne nach wie vor sehr gut verdienen würden. „Das spielt den Emerging Markets, die auch eher rohstofflastig sind, in die Karten“, streicht Hinterwallner hervor. Darüber habe sich die Lieferkettenproblematik spürbar entspannt, was der chinesischen Wirtschaft als einem wichtigen Motor des Welthandels ebenfalls hilft.

Porträt von Kurt Schappelwein
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Der konjunkturelle Rückenwind sollte auch den chinesischen Aktienmarkt beflügeln.

Kurt Schappelwein

Zinszyklus vor dem Ende

Darüber hinaus haben viele Emerging Markets das globale Thema Inflation früher mit Zinsanhebungen bekämpft, als zum Beispiel Europa oder auch die USA. So haben einige Notenbanken in diesen Märkten den Zinsanhebungszyklus bereits gestoppt, während in Europa und den USA dazu noch weitere Schritte erwartet werden. Insgesamt dürfte aber der Zyklus im zweiten und dritten Quartal 2023 enden, ist Schappelwein überzeugt. „Das ist für die Märkte insgesamt eine sehr, sehr positive Nachricht“, sind sich die beiden Finanzexperten einig. Denn die Zinsenanhebungen waren im Vorjahr ein wesentlicher Grund für die breiten Abverkäufe sowohl auf den Aktien- wie auch auf den Anleihenmärkten. Raiffeisen Research erwartet heuer in den USA noch eine Zinsanhebung von 25 Basispunkten und in Europa noch drei Schritte mit insgesamt 100 Basispunkten, einmal 50 und zweimal 25 Basispunkte. Dass die Notenbanken am Ende des Zyklus stehen dürften, erklärt Schappelwein so: „Auch wenn die Inflation die Zielwerte nicht erreichen wird, geht die Entwicklung in die richtige Richtung. Und das ist für die Notenbanken wichtiger, da die Geldpolitik eine zeitliche Verzögerung hat, bis sie in der Wirtschaft komplett ankommt. Die letzten Zinsanhebungen haben ihre Wirkung noch nicht ganz entfaltet.“ Daher dürften die Notenbanken heuer eine Pause einlegen, um die Folgen der Zinsschritte abzuschätzen.  

Europa versus USA

Nicht ganz einig sind sich die Experten bei der Einschätzung der Entwicklung in Europa und in den USA. Schappelwein hält heuer eine Outperformance der Aktienmärkte in Europa für durchaus realistisch: „Europa hat in den letzten Jahren mit den USA nicht mitgekonnt.“ Das lag unter anderem daran, dass Europa keine so großen Tech-Konzerne hat wie die Vereinigten Staaten, die vor allem in der Covid-Pandemie eine Outperfomance hinlegten. Zudem sei der europäische Finanzsektor viel größer als sein US-Pendant, was vor allem in der Zeit nach der Wirtschafts- und Finanzkrise ein Belastungsfaktor war. Das habe sich auch an der strukturellen Underperformance der europäischen
Finanztitel gezeigt. „Auch hier dreht sich nun das Bild. Mit den höheren Zinsen, vor allem am langen Ende, schaffen es die klassischen Banken, die höheren Zinsen bei den Krediten weiterzugeben. Auf der Sparseite erfolgt dies nur gebremst“, berichtet Schappelwein. Das führe zu starken Zuwächsen beim Zinsergebnis und erhöhe die Profitabilität der Geldinstitute. 

„Der Finanzsektor ist in Europa der größte Sektor. Das ist einer der Gründe, warum Europa heuer schon zu Jahresbeginn outperformt hat, und wir erwarten, dass es auch in den nächsten Monaten so weitergehen wird“, betont Schappelwein. Ein weiteres Argument, das
Europa in die Karten spielen dürfte, sei die starke Wirtschaftserholung Chinas, „die für Europa wesentlich stärkere Auswirkungen hat als für die USA“. Europa sei stark exportorientiert, vieles gehe in Richtung Emerging Markets und China. Die dortige Wirtschaftsschwäche der letzten Jahre habe Europa belastet, nun sollte die erwartete Stärkung der Wirtschaft in diesen Ländern Europa im Verhältnis zu den USA begünstigen. 

Die Geldpolitik kommt in den USA ans Ende ihres Straffungskurses.

Christian Hinterwallner
Porträt von Christian Hinterwallner
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Christian Hinterwallner sieht dagegen ein höheres Performance-Potenzial auf dem US-Aktienmarkt – „auch wenn wir 2023 für den europäischen Markt durchaus optimistisch und konstruktiv sind“. Europa sei schon in den letzten Monaten „sehr gut gelaufen“, weil hier die Wirtschaftsdynamik früher und akzentuierter an Fahrt verloren habe als jene in den USA. Hintergründe seien die stärkere Betroffenheit der europäischen Wirtschaft von der Energiekrise, aber auch aufgrund des Krieges in der Ukraine im Vorjahr. Geholfen haben, dass die Gas- und Elektrizitätspreise zuletzt signifikant zurückgekommen seien und sich die Herausforderungen bei den Lieferketten entspannt haben. Für den US-Markt spreche allerdings, dass sich die Konjunkturstabilisierung später vollziehen werde und der Markt daher etwas Aufholpotenzial habe. Viel verspricht sich der Aktien-Experte auch von den Tech-Unternehmen, weil die Belastungen des Vorjahres, die Geldpolitik und die Inflation nicht mehr so wirken wie im Vorjahr. „Zudem geht die Inflation in den USA stärker zurück als in Europa und die Geldpolitik kommt früher ans Ende ihres Straffungskurses an“, so Hinterwallner. 

Japans starker Yen belastet

Ein grundsätzlich interessanter Markt sei Japan, allerdings habe man ihn heuer eher weit unten auf der Länderliste, erklärt der Raiffeisen KAG-Experte. Zwar seien die Bewertungen japanischer Aktien durchaus interessant und es gebe viele große Unternehmen. „Allerdings erwarten wir, dass der Yen relativ stark aufwerten wird, weil sich unter anderem die japanische Notenbank von ihren Interventionen am Anleihemarkt inflationsbedingt verabschieden wird müssen“, so Schappelwein. Die japanischen Unternehmen seien grundsätzlich sehr stark exportorientiert. „Wenn der Yen so stark wird, wie wir uns das denken, dann wird das sehr viele japanische Unternehmen belasten“, analysiert der Veranlagungsexperte.

Osteuropa vor Neuformation

„Die Assetklasse Osteuropa, wie sie sich noch bis vor eineinhalb Jahren dargestellt hat, existiert nicht heute mehr, weil Russland, das einen Angriffskrieg gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen hat, mit einem Anteil von 60 Prozent dominant war“, so Schappelwein. In der Aktienterminologie gehören etwa Polen, Tschechien, Ungarn, aber auch die Türkei, die mit massiven wirtschaftlichen Herausforderungen zu kämpfen hat und vor Wahlen steht, zu Osteuropa. Mit der Zeit könnte sich aber eine Neuformation herauskristallisieren, die sich vor allem aus einigen zentraleuropäischen Ländern, den Balkanländern und aus Rumänien und Bulgarien zusammensetzen könnte. „Das ist ein Prozess, der jetzt beginnt“, erklärt der KAG-Experte.

Grundsätzlich sei die Geopolitik natürlich ein Risikofaktor, den man am Radar haben sollte. Allerdings sei es schwierig, diesen in eine Investitionsentscheidung mit einzubeziehen, erklärt Schappelwein. Denn dieses Risiko könne überraschend über Nacht schlagend werden, wie man es am traurigen Beispiel des Ukraine-Krieges gesehen hat. Genauso ist es aber denkbar, dass ein geopolitisches Risiko jahrelang nicht schlagend wird. „Die Märkte gewöhnen sich an Dinge. Wenn einmal ein Status quo wie der konventionelle Krieg in der Ukraine eingepreist ist, dann hat die Fortsetzung desselben, so zynisch das sein mag, keine Auswirkungen auf die Märkte“, erklärt der Finanzexperte. Allerdings gebe es hier Risiken in beide Richtungen. Sowohl eine Eskalation im Sinne einer territorialen Ausweitung des Krieges oder des Einsatzes von atomaren Waffen, als auch ein Waffenstillstand und Friedensverhandlungen würden auf den Aktienmärkten spürbar sein, betont Schappelwein.