Die starke konjunkturelle Erholung nach dem Corona-bedingten Schließen großer Wirtschaftsbereiche im Vorjahr hat das Thema Inflation in den Vordergrund gespielt. So legte die Teuerung in den USA zuletzt auf Jahresbasis um über 5 Prozent zu. „In Europa könnten wir in den kommenden Monaten bei den Konsumentenpreisen an der 3-Prozent-Marke kratzen, in Deutschland sind Preissteigerungen von an die 4 Prozent möglich“, prognostizieren Raiffeisen-Research-Leiter Gunter Deuber und RBI-Chefanalyst Peter Brezinschek. Der Fokus liege derzeit sehr stark auf der kurzfristigen Inflationsentwicklung von ein bis drei Jahren. Die beiden Raiffeisen-Experten haben sich in einer Untersuchung mit der strukturellen Langzeitentwicklung der Inflation auseinandergesetzt.
Für die kommenden 12 bis 24 Monate erwarten sie in den großen entwickelten Volkswirtschaften, allen voran in den USA und Europa, zwar zunächst sinkende Teuerungsraten. Aber längerfristig betrachtet über einen Zeitraum von zehn Jahren sei mit einer höheren Inflation zu rechnen als in den vergangenen zehn Jahren. Deuber: „Sehr wenige erwarten, dass in Europa die Inflation in den nächsten Jahren, aber auch mittelfristig über 2 Prozent kommen könnte. Wir denken, dass die Zeichen auch im politischen Setup, das wir in Europa sehen, eher dafür sprechen, dass es (langfristig Anm.) in Richtung 2 bis 3 Prozent geht.“ Eine Hyperinflation sehen die beiden Ökonomen „aber eindeutig nicht“.
Deflationärer Schock
Die aktuellen Preissteigerungen führt Deuber vor allem auf die Corona-Krise zurück, die „in vielen Bereichen ein deflationärer Schock“ war, „der jetzt sehr starke Preissteigerungen nach sich zieht“. Diese werden durch viele Einmaleffekte getrieben wie starke Energiepreissteigerungen auf Jahresbasis. Der Ölpreis sei im Vorjahr noch um die 20 Dollar je Fass gestanden, derzeit befinde man sich auf ganz anderen Niveaus von über 70 Dollar. Aber auch Steuereffekte wie die auslaufende Umsatzsteuersenkung in Deutschland sorgten für einen zusätzlichen inflationären Auftrieb.
Dennoch sprechen die Experten nicht von „Inflation im technischen Sinn“. Diese liegt erst vor, wenn sich die Preisentwicklung über einen längeren Zeitraum kontinuierlich nach oben bzw. über dem Inflationsziel der Notenbanken bewegt. Deshalb sehen die Notenbanker in Europa und den USA die aktuelle Preisentwicklung als nicht besorgniserregend bzw. „temporär“ an. Zudem gebe es Unsicherheiten bei der Inflationsmessung, weil Corona-bedingt rund 30 Prozent der Preise im Vorjahr nicht gemessen, sondern geschätzt wurden. Erst für 2022 erwarten die beiden Analysten verlässliche Inflationsraten – vorausgesetzt es kommt zu keinen neuerlichen Schließungen im Zuge der offenbar bevorstehenden vierten Corona-Welle.
Erholung unterschätzt
Die aktuelle Inflationsdynamik führt Deuber unter anderem auch „auf eine Öffnungsinflation“ zurück. Bei vielen Dienstleistungen seien die Preise nach Wiedereröffnung spürbar angestiegen – ganz besonders in der Beherbergung und Gastronomie. Höchstwahrscheinlich werden die höheren Preise erhalten bleiben, aber der Basiseffekt sollte für einen abnehmenden Einfluss im kommenden Jahr sprechen. Dazu kommen bisher ungesehene Spannungen in den Lieferketten sowie Angebotsengpässe. „Sehr viele Firmen haben die Erholungsdynamik nach der Corona-Krise unterschätzt“, sagt Deuber. Wie stark und rasch die Erholung war, verdeutlicht die Entwicklung des Welthandels. Dieser habe nach der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 rund zwei Jahre gebraucht, um wieder auf das Vorkrisenniveau zu kommen. „Nach den globalen Lockdowns 2020 haben wir sechs Monate gebraucht, um auf das Vorkrisenniveau zu kommen – und jetzt sind wir schon weit drüber“, betont Deuber.
Anders als beim aktuellen kurzfristigen Inflationstrend ging der langfristige globale Trend der vergangenen drei bis vier Dekaden zu niedrigeren Inflationsraten. „Die letzte Dekade 2010 bis 2020 war letztendlich von den niedrigsten Inflationsraten geprägt, die wir in der modernen Wirtschaftsgeschichte gesehen haben“, betont der Raiffeisen-Research-Leiter. In der Eurozone belief sich die Inflation in den letzten zehn Jahren auf 1,2 Prozent und in Österreich auf 2,0 Prozent. Nun erwarten Deuber und Brezinschek eine Trendwende in der langfristigen Inflationsentwicklung. „Wir denken, dass einige der strukturell und global preisdämpfenden Faktoren der letzten Dekaden wie zum Beispiel die Globalisierung, die Demografie oder die weltweite Ersparnisbildung in den 2020er-Jahren an Wirkungskraft verlieren oder sich teilweise sogar zu Preistreibern entwickeln könnten. Die Digitalisierung als preisdämpfender Faktor sollte aber Bestand haben“, meint Peter Brezinschek.
Nachhaltigkeit preistreibend
Dazu komme die zunehmende wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung der Nachhaltigkeitskriterien ESG (Umwelt, Soziales und Unternehmensführung) und des damit verbundenen stärkeren staatlichen Einflusses. „Um Lenkungseffekte für eine klimaneutrale Produktion und Verbrauch zu erreichen, müssten die CO2-Preise via Steuern oder Zertifikate in vielen Ländern erst eingeführt werden und schrittweise deutlich angehoben werden. Daraus sind mit hoher Wahrscheinlichkeit zusätzliche Aufschläge auf die Verbraucherpreise zu erwarten“, analysiert Brezinschek.
Neue Herausforderung
Wenn auch die extrem expansive Geldversorgung der vergangenen 20 Jahre zwar nicht ganz abreißen dürfte, so könnte sie doch eingedämmt werden. „Wir haben zwar bisher keine Inflation auf den Gütermärkten gehabt, wir haben aber seit 20 Jahren eine Inflation auf den Finanzmärkten. Dort ist sie zuhause“, betont Brezinschek. Die Notenbanken hätten bisher Blasen bei Vermögenspreisen bewusst toleriert, ergänzt Deuber. Künftig könnten sich die Notenbanker aber gezwungen sehen, diese Blasen zu bekämpfen, um die vor kurzem definierte Preisstabilität von maximal
2 Prozent Inflation zu verteidigen. Brezinschek erwartet, dass es infolge der geänderten Rahmenbedingungen auf den Aktienmärkten nicht mehr zu extremen Kurszuwächsen kommen dürfte. Die Realzinsen dürften aber länger negativ bleiben. Für die langfristige Vermögensbildung bedeutet dies, „dass langfristiges Ansparen nicht mit Spareinlagen oder Guthaben gehen kann, sondern das erfordert einen höhenwertigen Prozess der Vermögensveranlagung. Langfristig wird man an dem Thema Aktien nicht vorbeikommen“, ist Brezinschik überzeugt. Deuber weist im Zusammenhang mit der Geldpolitik auf den eklatanten Wettbewerbsnachteil der europäischen Banken gegenüber US-Banken, die aus gutem Grund nicht mit negativen Zinsen konfrontiert seien. „Diese Divergenz wird sich immer weiter fortsetzen, je länger wir in Europa im Status quo verharren“, so Deuber.