Der Karton ist längst verloren gegangen. Dennoch hat Michelangelo mit seinem Entwurf für das nie ausgeführte Fresko „Die Schlacht von Cascina“, der das im Arno badende, von einem Angriff der Pisaner Truppen überraschte Florentiner Heer abbildet, einen neuen Maßstab für den idealen Männerakt gesetzt, der über drei Jahrhunderte lang den Kanon geprägt hat. Die Ausstellung „Michelangelo und die Folgen“ in der Albertina erzählt von der Entstehung dieses Ideals der Körperdarstellung, der Auseinandersetzung damit und schließlich auch von dessen Verfall. Versammelt sind insgesamt 139 Werke.
Michelangelo Buonarroti (1475–1564) entwickelte das neue Ideal um 1500 im Spannungsfeld zwischen dem Studium der Natur und dem Vorbild der damals wiederentdeckten antiken Monumentalskulpturen. Beim Sezieren von Leichen untersuchte er den Aufbau des Körpers. Seine anatomischen Kenntnisse halfen ihm jedoch nicht nur, den organischen Ablauf einer Bewegung zu verstehen, sondern auch die Leidenschaften und Seelenqualen seiner Protagonisten sichtbar zu machen. Noch vor Ort konnte er 1506 die antike Laokoon-Gruppe besichtigen, die bei Ausgrabungen vor Rom gefunden wurde. Die Skulptur, die den Todeskampf des trojanischen Priesters Laokoon und seiner beiden Söhne zeigt, wurde nicht nur für Michelangelo und seine Zeitgenossen, sondern auch für nachfolgende Künstlergenerationen zum Inbegriff der Darstellung von Schmerz und innerem Ringen, das in kraftvoll-dynamischen Körperhaltungen nach außen getragen wird.
Etablierung eines Kanons
Die weitgehend chronologisch aufgebaute Ausstellung zeigt zunächst die Entwicklungsgeschichte des Kanons auf. Vorgestellt werden dabei auch Vorgänger von Michelangelo wie Antonio del Pollaiuolo. Dieser war laut dem Biografen Giorgio Vasari der erste Künstler, der dem Menschen „die Haut abgezogen“ habe, um den muskulären Aufbau zu studieren. Ebenfalls präsentiert werden Jugendzeichnungen des Renaissancemeisters. Angelpunkt der Schau sind jedoch Michelangelos Studien für „Die Schlacht von Cascina“, die er im Palazzo Vecchio in Florenz hätte ausführen sollen, und für das Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle.
Zu den faszinierendsten Entwürfen für Letzteres zählen das Blatt „Studien für die Libysche Sibylle“ (um 1510/11) aus der Sammlung des Metropolitan Museum of Art. Sie wurde mit ihren weit geöffneten Armen und der kunstvollen Drehbewegung des Körpers zur graziösesten Figur des Ensembles.
Die Wirkung der Kunst Michelangelos zeigt sich besonders deutlich im unmittelbaren Umfeld und der direkten Nachfolger des Florentiner Meisters. So zeigt etwa Raffaels „Nackter Jüngling, an einer Mauer hängend“ (1514) mit den feinen, dicht aneinander liegenden Linien, die jede Muskelerhebung herausarbeiten, deutlich den Einfluss von Michelangelos Rötelentwürfen für die Sixtinische Kapelle.
Übersteigerung eines Ideals
Bezugspunkt ist Michelangelo aber auch für die Manieristen, deren Darstellungen sich durch unnatürlich verlängerte und gestreckte Proportionen und komplex gedrehte Körper charakterisieren. Sie übersteigern damit das von Michelangelo geprägte Ideal eines kraftvoll-dynamischen Körpers teils bis zur Unkenntlichkeit. Ein Beispiel ist hier Jacopo Tintoretto, dessen Darstellungen einzelner Muskelpartien durch wellenförmige Linien den Eindruck einer unebenen Oberfläche vermitteln, für die im Italienischen oft auch der Begriff „sacco di noce“ – ein Sack voll Nüsse – gebraucht wird.
Nachhaltig geprägt hat die Auseinandersetzung mit Michelangelos Körperdarstellungen auch Peter Paul Rubens. So zeugt etwa die „Aktstudie eines Mannes in vorgebeugter Haltung“ (1603) von einem besonderen Interesse an anatomischen Details der Muskulatur und am Ausdruck von Spannung und Bewegung. Der niederländische Barockmaler lernte die Kunst des Renaissancemeisters bei einem Studienaufenthalt in Italien kennen, bei der er auch mehrere Zeichnungen – überwiegend Aktstudien – Michelangelos erwarb, die sich heute durch eine glückliche Fügung in der Sammlung der Albertina befinden.
Der „Anti-Michelangelo“
Deutlich gegen den von Michelangelo etablierten Kanon wendet sich hingegen Rembrandt mit seinem naturalistischen Körperbild. Dieser „Anti-Michelangelo“ zeigt in seinen Aktdarstellungen keinen muskulösen Athleten, sondern schlaksige Jünglinge und Frauen ohne Idealmaße. Deutlich zeichnen sich etwa bei „Diana im Bade“ (um 1631) der gewölbte Bauch und die Falten auf der Haut ab. Mit derlei Darstellungen stieß der niederländische Barockkünstler nicht nur bei seinen Zeitgenossen auf blankes Unverständnis.
Im 18. Jahrhundert entdecken die Maler Pompeo Girolamo Batoni und Anton Raphael Mengs, die als Hauptvertreter des Klassizismus gelten, in Michelangelos Werken wieder den vorbildhaften Ausgleich zwischen dem Ideal antiker Skulpturen und dem Naturstudium. Beide Künstler schaffen Werke, die in der Präzision der Modellierung der Muskulatur, der Darstellung komplexer Posen und der gekonnten Wiedergabe von Körperteilen in perspektivischer Verkürzung auf Michelangelo zurückgehen.
In „unbekanntes Terrain“
Etwas aufgesetzt wirkt der Ausstellungsteil, der die Frau als „terra incognita“ thematisiert. Bezugspunkt ist hier, dass Michelangelo nackte Frauenkörper – ganz in mittelalterlicher Tradition – nur dann darstellte, wenn er musste, und seine Frauenfiguren dabei nach dem Idealbild des männlichen Modells schuf, das er dann mit weiblichen Attributen versah. Thematisiert wird in diesem Kapitel vor allem der Umstand, dass der nackte weibliche Körper einerseits in der Darstellung von Göttinnen oder Nymphen idealisiert wurde, und andererseits lange Zeit mit Laster, Sittenlosigkeit und Geschlechtstrieb gleichgesetzt wurde. Eine Auseinandersetzung damit ist zwar wichtig, jedoch bewegt man sich mit den hier präsentierten Werken zu weit weg vom eigentlichen Topos der bis dahin sehr stringenten Schau.
Den Schlusspunkt der Ausstellung bilden mit Gustav Klimt und Egon Schiele zwei Künstler des Wiener Fin de Siècle. Sie stehen exemplarisch für ein Jahrhundert, in dem Michelangelos Kanon obsolet wird.