Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Sicherheitsarchitektur Europas über Nacht radikal verändert. Was sind Ihre ersten Lehren für die Sicherheit Österreichs?
Erwin Hameseder: Die europäische Sicherheitsordnung ist massiv erschüttert. Die letzten Wochen haben eindeutig gezeigt, dass Krieg in unserer Nachbarschaft niemals ausgeschlossen werden kann. Der Krieg in der Ukraine und die notwendigen Sanktionen gegen Russland haben auch massive Auswirkungen auf die österreichische Wirtschaft, deren Folgen noch nicht absehbar sind. Wir müssen uns politisch solidarisch zeigen und massiv in unsere Sicherheit, in die umfassende Landesverteidigung und hier vor allem in das Bundesheer investieren.
Welche Aufgaben kommen auf das Bundesheer, aber auch auf die Miliz in den nächsten Wochen zu?
Hameseder: Die genauen Aufgaben für das Bundesheer in den nächsten Wochen sind noch nicht im Einzelnen absehbar. Hier gilt es vor allem zu beobachten, welche Auswirkungen die Flüchtlingsströme auf Österreich haben. Es gilt den vom Krieg betroffenen Ukrainern zu helfen und sie zu schützen. Das Bundesheer als strategische Handlungsreserve der Republik wird hier die zivilen Behörden nach konkreten Anforderungen unterstützen. Genauso wichtig ist aber auch, sehr rasch Maßnahmen einzuleiten, um das Bundesheer in seiner Kernaufgabe, der militärischen Landesverteidigung, zu stärken.
In den letzten Jahren mehrten sich die Stimmen, dass sich das Bundesheer von der eigenständigen Fähigkeit zur Landesverteidigung dramatisch entfernt hat. Wie sehen Sie das?
Hameseder: Ich habe seit Jahren auf die Unterfinanzierung des Bundesheeres und die damit verbundenen Konsequenzen und auf die Qualität der Aufgabenerfüllung hingewiesen. Das ÖBH muss in der Lage sein – bezogen auf die jeweils aktuellen Bedrohungen Österreichs – seine verfassungsmäßigen Aufgaben zu erfüllen. Für die künftig aufgrund der schlechter werdenden Sicherheitslage in Europa zu erwartenden Bedrohungen sind relevante Investitionen in das Bundesheer unerlässlich. Ich begrüße hierbei auch die einhelligen Erklärungen auf politischer Ebene, das Verteidigungsbudget aufzustocken.
„Die Erhöhung des Regelbudgets ist ein absolut notwendiger richtiger Schritt.“
Die Budgetausgaben fürs Bundesheer sollen nun von 0,6 Prozent des BIP auf mindestens 1 Prozent steigen. Wird das ausreichen und wo wird das Geld am dringendsten gebraucht?
Hameseder: Die Erhöhung des Regelbudgets ist ein absolut notwendiger richtiger Schritt. Zum Abbau des massiven Investitionsrückstaus beim Bundesheer, auch bei der Miliz, sind jedoch kurzfristig zusätzliche Sonderinvestitionspakete erforderlich. Am dringendsten werden zum Beispiel Investitionen in die Schutzausrüstung von Soldaten, die Funkausstattung und Bewaffnung sowie geschützte Kampffahrzeuge benötigt. Darüber hinaus sind Aufklärungs- und Luftabwehrsysteme, Kapazitäten für den Kampf im Cyber-Raum sowie weitreichende Wirkmittel am Boden und in der Luft dringend notwendig.
Europa scheint nun eine Ära des Aufrüstens bevorzustehen. Die deutsche Bundeswehr bekommt 2022 ein Sonderbudget von 100 Mrd. Euro. Was bedeutet diese Entwicklung für Österreich?
Hameseder: Für Österreich bedeutet dies eine Ära des Nachholens und Nachrüstens, was in den letzten zwanzig Jahren im Bereich der äußeren Sicherheit leichtfertig vernachlässigt wurde.
Kommt das Thema einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik nun wieder verstärkt auf die Agenda bzw. soll Österreich über eine NATO-Mitgliedschaft nachdenken?
Hameseder: Der Nachdenkprozess über eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik hat mit dem Beitrittsprozess zur Europäischen Union begonnen und beinhaltet die Verantwortung jedes Mitgliedsstaates, seinen aktiven Beitrag im Rahmen der Beistandspflicht zu leisten. Eine Mitgliedschaft zur NATO ist aus meiner Sicht keine realistische politische Option.
„Eine Mitgliedschaft Österreichs zur NATO ist keine realistische politische Option.“
Bundeskanzler Karl Nehammer hat die aufkommende Debatte über die Neutralität Österreichs für beendet erklärt. Wie stehen Sie zu dieser Sicherheitsfrage?
Hameseder: Ich stehe für ein Heer nach den Grundsätzen eines Milizsystems, so wie es verfassungsmäßig vorgesehen ist. Sicherheitssysteme bzw. Sicherheitsstrukturen unterliegen einem permanenten Entwicklungsprozess und beinhalten die staatliche Verantwortung, diese ernst zu nehmen und das Österreichische Bundesheer ausreichend personell und materiell auszustatten. Neutralität verlangt weitgehende Eigenständigkeit bei der Landesverteidigung, da der neutrale Staat keinen militärischen Allianzen beitreten darf. Umfassende Sicherheitsvorsorge verlangt eine umfassende Landesverteidigung, zu der sich Österreich verfassungsmäßig bekennt. Es kommt nun darauf an, diese Thematik im Lichte der aktuellen Entwicklungen umfassend neu zu beurteilen und sehr rasch die Konsequenzen zu ziehen.
Neben dem verheerenden Krieg in der Ukraine tobt zwischen Russland und der Ukraine auch ein Cyberkrieg. Ist das Teil einer künftigen Kriegsführung und wie schätzen Sie Österreichs Abwehrkraft im virtuellen Raum ein?
Hameseder: Cyberangriffe finden täglich statt und kosten der Wirtschaft viel Geld. Im Zuge von bewaffneten Auseinandersetzungen beginnt der Cyberkrieg schon lange vorher und hat massiven Einfluss auf das Funktionieren der Kommunikationssysteme, hochtechnischer Waffensysteme und auf das Funktionieren und die Sicherheit kritischer Infrastruktur. Österreich ist dabei, seine Abwehrstrukturen im Bereich Cybersicherheit deutlich auszubauen – auch das bedeutet einen relevanten Mitteleinsatz. Zusätzlich bin ich auch überzeugt, dass dies in Zukunft noch mehr als bisher internationale Zusammenarbeit erfordert.
Österreich leistet vor allem humanitäre Hilfe und nimmt auch Flüchtlinge auf. Welche Rolle spielt das Bundesheer bzw. die Miliz dabei?
Hameseder: Das Bundesheer bereitet sich auf die Unterstützung der staatlichen Strukturen bei der Bewältigung des anwachsenden Flüchtlingsstromes nach Österreich vor. Wir machten bereits breite Erfahrungen im Zuge der Migrationskrise 2015. Bei Einsätzen im Inland spielt die Miliz eine wichtige Rolle, da circa 50 Prozent der eingesetzten Soldaten permanent durch die Miliz gestellt werden. Aktuell hat das Österreichische Bundesheer zur Unterstützung der Behörden 1.750 Soldaten im Inlandseinsatz.