„Ich habe nie einen Maulkorb bekommen“

Peter Brezinschek lässt vier Jahrzehnte turbulenter Kapitalmarktentwicklungen und persönlicher Erfahrungen Revue passieren. Mit Jahresbeginn hat sich der Chefanalyst und Gründer von Raiffeisen Research nur formal in den Ruhestand zurückgezogen. Im Interview spricht er über den Raiffeisen-Spirit, die zunehmende Staatshörigkeit und Bodenversiegelung in Wien.

Peter Brezinschek im Abschiedsinterview
© RZ/Alexander Blach

40 Jahre Raiffeisen, davon 20 Jahre bei Raiffeisen Research. Wie schwer fällt der Abschied?
Peter Brezinschek: Alles hat einmal ein Ende. Ich habe mir schon 2016 Gedanken über meine Nachfolge gemacht. Es war mir ganz wichtig, dass Raiffeisen Research in ruhigem Fahrwasser und mit hohem Qualitätsstandard weitergeführt wird. Mit der Entscheidung über meine Nachfolge im Jahr 2020 war ich dann ziemlich entspannt und habe gewusst, Raiffeisen Research ist in guten Händen. Gunter Deuber wird das Projekt sehr professionell, auf zukunftsweisende Art und teamgetrieben weiterführen. Er ist jemand mit Raiffeisen-Spirit und fachlich unbestritten. Raiffeisen Research ist insgesamt ein sehr gutes Team. Die Qualität hat sich gerade in den letzten drei Jahre, in dieser schwierigen Zeit, unter Beweis gestellt. Da hat das neu organisierte Team seine Feuertaufe bestanden – auf das bin ich schon stolz.  

Was ist für Sie der Raiffeisen-Spirit? 
Brezinschek: Das ist das Denken, etwas gemeinsam für unsere Kunden erreichen zu wollen, etwa beim Vermögensaufbau oder beim Finanzierungswunsch. Es weiß nicht einer, was das Beste ist, aber es tragen viele Ideen zusammen und dann wird etwas Neues geboren. Dabei fließt das Know-how von allen Seiten zusammen, auch von der Kundenseite. Dieser Ansatz hat bei Raiffeisen Research gefruchtet. Wir haben mit vier Landesbanken begonnen und darauf hingewiesen, dass es keinen Sinn hat, dass jede Landesbank ihre eigene Zins- und Konjunkturmeinung bastelt.

Was hat Sie 40 Jahre bei Raiffeisen gehalten?
Brezinschek: Dass jemand 40 Jahre bei einem Arbeitgeber bleibt, ist in einer schnelllebigen Zeit sicher nicht normal, aber es hat immer das Vertrauen in meine Arbeit gegeben und die Vorstände haben mir immer die Freiheit gegeben, auch unbequeme Meinungen zu äußern, die vielleicht in den politischen Diskurs hineinwirken. 

Können Sie ein Beispiel nennen?
Brezinschek: Ich erinnere mich etwa an eine Pressekonferenz 2006 in Salzburg, wo ich die Postaktie als Volksaktie bezeichnet habe – eine Aktie mit stabilem Cashflow, wenig Kursschwankungen und hohen Dividendenrenditen. Bereits am Rückweg kamen Anrufe aus dem Parlament, wie unverantwortlich es nicht sei, dass sich das konservative Raiffeisen für eine Aktienveranlagung ausspricht. Ich war immer ein Vertreter der Aktie und habe stets gesagt, für den Vermögensaufbau der österreichischen Bevölkerung ist auf lange Sicht eine Aktienveranlagung wichtig, um nicht unter der Inflationsrate zu sein. Ich habe aber auch die rot-schwarze Koalition vor dem EU-Beitritt für ihr Budgetdefizit von 6 Prozent heftig kritisiert. Die einzige Anmerkung von Klaus Liebscher, damals RZB-Generaldirektor: „Das könnte etwas diplomatischer formuliert sein.“ Aber ich habe nie einen Maulkorb bekommen und wurde bei Raiffeisen auch nie nach einem Parteibuch gefragt. Ich möchte mich auch nicht von irgendjemandem vereinnahmen lassen und mir meinen Weg kanalisieren. 

„Ich wurde bei Raiffeisen auch nie nach einem parteibuch gefragt.“

Peter Brezinschek

Was war der Antrieb, 2003 Raiffeisen Research zu gründen?
Brezinschek: Es war uns wichtig, dass wir einen Beitrag leisten, dass unsere Kunden Raiffeisen bei Wirtschafts- und Finanzthemen als kompetenten Partner ansehen. Das gemeinsam mit RBI, RZB und den Landesbanken aufzubauen, ist uns gelungen. Die Landesbanken haben immer die Gewissheit gehabt, dass sie bei dem Produkt mitreden können. Nicht wir müssen zeigen, wie gescheit wir sind, sondern sie müssen uns sagen, was ihre Kunden am meisten brauchen. Ein Grund des Erfolges war sicher auch, dass wir immer versucht haben, in einfacher Sprache zu sprechen. Ich arbeite gerne mit Landschaftsbildern, damit die Leute nicht nur an Finanzmärkte denken, sondern vielleicht auch ein Gefühl assoziieren. Das macht das Ganze lebendig. 

Vier Jahrzehnte Kapitalmarkt. Wie kann man so lange an einem Thema dran sein? 
Brezinschek: Die Beschäftigung mit Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Technologie wird niemals langweilig. Es gibt einen ständigen Wandel. Man muss natürlich auch Optimist sein. Wenn man ein ständiger Nörgler und Pessimist ist, hat man am Finanzmarkt nichts verloren. Einmal himmelhoch jauchzend und dann zu Tode betrübt, warum sollte etwas an den Börsen anders sein als im menschlichen Leben? Der Kapitalmarkt ist eine humane Angelegenheit. Manchmal liegen die Nerven blank. Aber der Spruch: Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom, hat schon was für sich. Man muss manchmal gegen den Mainstream sein. Unpopuläre Meinungen können erfolgreich sein.

Mit Analysen und Prognosen ist es oft schwierig. Gibt es welche in der Vergangenheit, die Sie besser vorhergesagt haben als andere?
Brezinschek: Bei der US-Politik „Jedem Amerikaner sein Eigenheim“ haben wir immer gesagt, das kann gefährlich werden. Genauso wie diese Immobilienentwicklung in Spanien. Auch unsere Prognosen mit warnenden Stimmen zum Schweizer Franken sind in einigen Prozessen verwendet worden. Die von der heimischen Politik ausgelöste Wirtschaftskrise mit den Lockdowns haben wir mit 6 Prozent Einbruch fast auf den Punkt getroffen – da würde ich mir übrigens eine ehrliche Aufarbeitung dieser Pandemiemaßnahmen wünschen. Auch den Anstieg der Inflation haben wir im März 2021 schon gesehen. Es ist Blödsinn, wenn man sagt, die Inflation ist ein Produkt des Krieges, das ist nur ein Verstärkereffekt gewesen. Wir waren schon am Beginn des Ukraine-Krieges bei fast 6 Prozent. In vielen langfristigen Trends haben wir unseren Kunden gute Orientierungsleitplanken gegeben. Wir wollen weniger die Zukunft voraussagen und treffsichere Prognosen abgeben, sondern Gedankenanstöße geben, damit die Leute ihr Leben zum Beispiel beim Thema Vorsorge danach ausrichten können. 

Wie schwierig sind Prognosen in der heutigen Zeit?
Brezinschek: Seit 2008/2009 greifen die Staaten und die öffentliche Hand immer mehr in das wirtschaftliche Leben ein und marktwirtschaftliche Prinzipien werden zurückgedrängt. Prognosen werden deshalb immer schwieriger: Bis 2008 waren es etwa 80 Prozent ökonomische Vorgänge und 20 Prozent Politik. In der Pandemie waren es plötzlich 100 Prozent Politik. Aktuell sind es etwa 75 Prozent Politik. 

Was war Ihre größte Fehleinschätzung?
Brezinschek: Ich hätte nie gedacht, dass die FAANG-Gruppe, also die amerikanischen Technologieaktien, noch einmal so nach oben geht. Seit 2009 bis jetzt per anno fast 18 Prozent Total-Return-Entwicklung. Dass man über einen so langfristigen Zeitraum von 14 Jahren so eine Outperformance hinkriegt, das hat mich sehr überrascht. Ich hatte auch nicht erwartet, dass es so etwas wie ein totales Zusperren in einer Pandemie gibt. Die marktwirtschaftliche Ordnung wird zunehmend zurückgedrängt. Viele schimpfen über den Staat, aber wir haben eine totale Staatshörigkeit. Der Staat muss die Inflation bekämpfen, sich um die Energiebeschaffung kümmern und das Klima retten. Sie diskutieren über Tempo 100 auf Autobahnen, das ist so was von dümmlich. Die meisten Emissionen passieren im Gemeindegebiet und durch zu viele Ampelanlagen. Durch dieses Abbremsen und Anfahren wird den Leuten nicht nur Geld, sondern auch Zeit gestohlen. Und während in China über die Hochgeschwindigkeitszüge geredet wird, wollen wir Lastenfahrräder einführen. Da ist Europa auf dem Holzweg. Auch die Gentechnikfreiheit habe ich nie ganz verstanden. Ich weiß nicht, ob die Amerikaner oder Asiaten alle so ein großes Gesundheitsrisiko dadurch haben? Schädlingsresistente Pflanzen und das ohne Einsatz von Chemie ist doch etwas Supertolles. 

Wo sehen Sie noch Potenzial in der Kapitalmarktanalyse?
Brezinschek: Die Datenauswertungen sind ein ganz wesentlicher Baustein der Analyse, um die relevanten von weniger relevanten Daten zu unterscheiden. Interessanterweise haben sich ein paar Indikatoren wie der Ifo-Index oder die Einkaufsmanager-Indizes über Jahrzehnte als stabile Frühindikatoren etwa für eine Trendwende am Aktienmarkt erwiesen, obwohl sich die Wirtschaftsstruktur massiv verändert hat. Im Endeffekt aber kommt es auf die Erfahrung an, die Daten zu deuten. Modelle können vieles rauswerfen, in der Interpretation und der Szenarien-Analyse bleibt der Analyst aber gefordert. Das ist das Spannende und das Schöne am Beruf.

„Unpopuläre Meinungen können erfolgreich sein.“

Peter Brezinschek

Analysen sind das eine, Lösungsvorschläge zu liefern etwas anderes. Wie oft hat man Ihre Vorschläge in der Bank oder auch in der Politik aufgegriffen?
Brezinschek: Ich habe immer als Volkswirt agiert und nicht als ein Vertreter einer Bank, wie es mir in Diskussionen manchmal vorgehalten wurde. Ich wollte das nie, denn ich war und bin immer der Sache verpflichtet. Entscheidend ist die Praxis, nicht irgendwelche theoretischen Konstrukte. Ich war auch nicht immer der Meinung, dass ich auf der richtigen Seite bin. Wenn man sehr gut sein will, muss man wirklich selbst sein größter Kritiker sein, das soll aber nicht in Selbstzweifel ausarten. Im Diskurs geht es auch darum, gegenüber anderen Meinungen eine gewisse Offenheit zu haben. Das hört aber dort auf, wenn es ideologisch wird.

Wie wichtig ist der direkte Austausch mit Ökonomen und Politikern?
Brezinschek: Ich habe nie die Nähe zur Politik gesucht, weil man sofort abgestempelt wird. Das ist mir verhasst. Wenn aber jemand auf mich zugekommen ist, dann habe ich das akzeptiert und mich ausgetauscht. Ich habe natürlich viel Kontakt zu anderen Ökonomen etwa zu Kollegen aus dem Wifo oder der Oesterreichischen Nationalbank. Zudem wird meine Meinung oft über Medien transportiert. Und ich nutze soziale Medien wie Twitter, um mich bei tagesaktuellen Themen einzubringen und so pointiert auf Fehlentwicklungen hinzuweisen. 

Gab es nie den Versuch, mehr Einfluss auf die öffentliche Debatte zu nehmen?
Brezinschek: Das habe ich mit der Ökonomen-Gruppe „proMarktwirtschaft“ versucht. Unser Ziel war es damals, mit regelmäßigen Policy-Briefen und Hintergrundgesprächen eine wirtschaftspolitische Diskussion in Österreich in Gang zu bringen. Wir haben damals ganz stark über Pensionen, Leistungsprinzipien, aber auch Verteilungsfragen gesprochen. 2013 haben wir zum Beispiel im Nationalratswahlkampf einen Beipackzettel für Wahlzuckerl gefordert. Leider ist es uns nicht gelungen, unsere hochgesteckten Vorhaben zu erreichen. Wenn man zwei- oder dreimal im Jahr etwas macht, dann ist es zu wenig, um in der Öffentlichkeit nachhaltig zu wirken.

Welche Tipps haben Sie für Nachwuchsanalysten?
Brezinschek: Sie sollten natürlich sehr datenaffin, aber nicht zu verliebt in Daten sein, damit sie sich in ihnen nicht verlieren. Es geht nicht darum, zu sehr ins Detail zu gehen, das kann vielleicht wissenschaftlich etwas bringen, aber es versperrt manchmal den großen Blick. Um eine Botschaft zu bringen, ist manchmal weniger mehr. Außerdem sollte man aufgeschlossen für unterschiedliche Themen sein und möglichst viel aufsaugen wollen, in viele Dialoge mit anderen treten. Wir haben immer wieder auch junge Leute aufgenommen, um möglichst neue Gedankengänge mit einzubringen. Ich würde mir wünschen, dass wieder mehr Frauen die Faszination des Kapitalmarkts und der Wirtschaft erkennen und den Beruf ergreifen, wie es etwa in den 1980er-Jahren der Fall war.

Welchen Themen wollen Sie sich nun mehr widmen?
Brezinschek: Was mir jetzt sehr am Herzen liegt, ist die Entsiegelung der Böden in Wien. 2020 und 2021 habe ich im Alleingang fünf Baumprojekte gestartet und an die 25 Bäume in Wien gepflanzt. Wenn heuer fünf weitere Bäume dazukommen, wäre das super. Es geht darum, den Klimawandel erträglicher zu machen. In Wien gibt es eine erhebliche Temperatur-Diskrepanz zwischen der Innenstadt und den Stadträdern, die im Sommer bis zu sieben, acht Grad betragen kann. Das hat aber nichts mit dem Klimawandel zu tun, sondern damit, dass wir alle Grünschneisen zubetoniert haben.

Wie sieht Ihr persönlicher Ausblick auf 2023 aus?
Brezinschek: Ich bleibe dem Kapitalmarkt weiterhin verbunden, weil mich das zu sehr interessiert. Ich kommentiere das Geschehen auf Twitter und will künftig auch mehr auf LinkedIn aktiv sein. ­Zudem will ich mit meinen Kollegen in Verbindung bleiben. Das Schöne, was ich mitnehme, sind die persönlichen Kontakte. Darüber hinaus freue ich mich, dass ich jetzt mehr Zeit habe, mich mit einzelnen Bereichen wie Energie oder Bauen noch intensiver zu beschäftigen und Unternehmen zu beraten. Dazu kommen Anfragen aus dem Raiffeisen-Sektor, an Diskussionen teilzunehmen oder Fachvorträge zu halten. Ich werde aber kein Gegenprogramm zu Raiff­eisen Research sein. Wenn es möglich ist, stimme ich meine Meinung ab und wenn meine Meinung eine prononciertere ist, dann werde ich es dazusagen. Außerdem arbeite ich an einem Buch, wie ich die Finanzmärkte in diesen 40 Jahren gesehen habe – ich will es bis Ende Februar fertigstellen. Also auch heuer ein sehr ehrgeiziges Programm.