Über Kränkungen sprechen

Reinhard Haller ist Neurologe, Psychiater, Psychotherapeut und Bestsellerautor. Als Gerichtsgutachter analysierte er die Täter einiger der größten Kriminalfälle des Landes.

Warum ist die Kränkung so ein blinder Fleck, wie Sie es in Ihren Büchern und Vorträgen beschreiben? Trotz ihrer zerstörerischen Kraft? 
Reinhard Haller: Die Kränkung hat das Schicksal, dass sie oft verdrängt und tabuisiert wird. Die meisten Menschen sagen, das sind doch nur Kinkerlitzchen, wegen so etwas lasse ich mich nicht aus der Bahn werfen. Die Kränkung wird nicht ernst genommen – ich selbst bin im Laufe meines langen Psychiaterlebens erst relativ spät darauf gekommen, wie wirkmächtig sie ist. Durch den Fall Franz Fuchs, der sich zum Teil in Graz abgespielt hat. Dessen Motive waren ja auch nichts Spektakuläres, sondern „nur“ wiederholte Kränkungen. 

Sie beschreiben in ihren Vorträgen, dass die Ursache von „Schoolshootings“ eine lang zurückliegende Kränkung sein kann. Etwa, dass niemand mit dem späteren Täter das Zimmer auf einer Sportwoche teilen wollte. Gibt es aus Ihrer Sicht eine Möglichkeit, dass solche Kleinigkeiten nicht so eskalieren? 
Haller: Ja, ich glaube schon. Kränkungen erleben Menschen fast täglich. In manchen Fällen wühlen diese weiter. Das Problem dabei ist, dass sie nicht ernst genommen und mit der Maske der Coolness kaschiert werden. Nicht jeder Mensch ist auch gleich kränkbar. Man ist nicht in jeder Situation dafür gleich empfänglich. Kränken können nur Menschen, die einem persönlich wichtig sind, deshalb der Ausspruch: „Von dir hätte ich mir das nie erwartet, von dir tut das besonders weh“. 

Sie haben in Ihren Vorträgen und Büchern die These aufgestellt, die „MeToo“-Debatte sei erst dadurch möglich geworden, dass das erlittene Leid nach so vielen Jahren aussprechbar geworden ist. 
Haller: Es ist so wichtig, dass über Kränkungen gesprochen werden kann. Die körperlichen Erkrankungen gehen eher zurück, die psychischen wie Angst, Sucht und Depression nehmen zu. Die sind auch nicht so „angesehen“ – man spricht leicht über eine Meniskusoperation, sogar mit einem gewissen Stolz, aber man tut sich wahnsinnig schwer zu sagen, unter Panikattacken, Schlafstörungen oder Depressionen zu leiden. Das ist problematisch.

Weil Sie das Thema Sucht angesprochen haben: Heißt das im Umkehrschluss, man kann bei einer Suchterkrankung nie die Sucht isoliert für sich behandeln, sondern es geht auch immer um eine psychische Komponente?
Haller: Ja. Sucht ist immer ein sogenanntes Epiphänomen. Etwas pfropft sich auf zugrundeliegende Störungen drauf – wie Minderwertigkeitsgefühle, Vereinsamungsgefühle bei alten Menschen, Selbstwertzweifel bei Jugendlichen, Depressionen. Suchtmittel wie Cannabis und Alkohol sind in der Regel gute „Medikamente“, mit dem Nachteil, dass sie nur für ein paar Stunden wirken und die Dosis laufend gesteigert werden muss, mit dem Preis der Abhängigkeit. Nach dem Entzug muss sofort die Basisstörung, beispielsweise der Depression, behandelt werden. 

Der Wertschätzung, die Gegenspielerin der Kränkung, haben Sie ein eigenes Buch gewidmet. Sie ist so ein mächtiges Instrument und kann so vieles bewirken. Dennoch geschieht es so selten. Warum?
Haller: Jeder Mensch will wertgeschätzt werden, aber man tut sich wahnsinnig schwer damit, Wertschätzung zu geben, obwohl wir aus dem eigenen Leben wissen, wie wichtig das ist. Mitarbeiter sollen regelmäßig gelobt werden – individuell, direkt, authentisch und originell. 

In Ihrem Buch zum Thema Hass sagen Sie, dieser sei deswegen so erfolgreich, weil die Botschaften so klar und einfach sind. Gibt es auch die einfache Botschaft der Liebe?
Haller: Ja, das glaube ich schon, Liebe ist aber nicht so gut auf den Punkt zu bringen wie der Hass. Die Liebe ist eine unglaublich starke Kraft, sie ist aber auch ein komplexes Phänomen. Liebe zu erfassen und zu beschreiben ist viel schwieriger als der Hass. Hass ist einfach und primitiv. Der Hass hat immer recht, da muss man nichts erklären. Ich kann ganze Bevölkerungsgruppen hassen, ohne einen Hintergrund zu kennen. 

Wie umgehen mit narzisstischen Menschen? Kann man im Berufsleben Vorgesetzten tatsächlich den Spiegel vorhalten? 
Haller: Es ist sehr schwierig, mit narzisstisch veranlagten Menschen zu leben, ebenso problematisch sind narzisstische Vorgesetzte. Manchmal hilft es, wenn man versucht, hinter die Fassade zu blicken. Narzissmus ist grundsätzlich nichts Schlechtes. Ohne Selbstwert, Selbstvertrauen und Durchsetzungsvermögen geht es nicht. Schlimm ist nur die hohe Dosis davon. Wenn es zu viel davon gibt, wie derzeit in der Gesellschaft, dann führt das zu emotionaler Kälte und gesellschaftlicher Entsolidarisierung, weil sich alles auf das Ego zentriert.   

AusgabeRZ46-2023

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