Wolf: „Wir sind extrem jung geblieben“

Seit 125 Jahren prägen die Lagerhaus-Genossenschaften den ländlichen Raum. Welche Meilensteine erreicht wurden und wie die Erfolgsgeschichte weitergehen wird, darüber und vieles mehr spricht RWA-Generaldirektor Reinhard Wolf.

Vor 125 Jahren wurden die ersten Lagerhaus-Genossenschaften gegründet. Warum ist das ein Grund zum Feiern?
Reinhard Wolf: Im Jahr 1898 gab es eine Gründerwelle. Nach dem ersten Lagerhaus in Pöchlarn ist eine Reihe anderer Lagerhaus-Genossenschaften und auch der erste Zentralverband, der Verband ländlicher Genossenschaften, gegründet worden. Es gab eine gewisse Aufbruchstimmung in Österreich. Man hatte die Bauernbefreiung 1848 noch nicht verdaut und die Landwirte brauchten wirtschaftlich gesehen Unterstützung, die sie sich dann gegenseitig gegeben haben. 125 Jahre, das ist ein Alter, das schon gefeiert gehört. Das Entscheidende dabei ist aber, dass wir trotz der 125 Jahre extrem jung geblieben sind, das ist der wahre Grund zum Feiern. 

Wie würde der ländliche Raum heute aussehen, ohne der Lagerhaus-Genossenschaften?
Wolf: Wir brauchen nur in andere Regionen der Welt schauen, wo die Landwirtschaft ein komplett anderes Bild abgibt. Die Genossenschaften, die ja eine Vereinigung der bäuerlichen Familienbetriebe sind, haben einen gewaltigen Beitrag dazu geleistet, dass diese landwirtschaftlichen Familienbetriebe in Österreich weiterhin existieren konnten. Dort, wo die Genossenschaften nicht funktioniert haben, das war in einigen unserer Nachbarländer – aufgrund des Kommunismus –, sieht man, dass es diese bäuerlichen Familienbetriebe nicht mehr gibt, sondern nur mehr Großbetriebe und damit eine ganz andere Kulturlandschaft. Die Genossenschaften haben zur Entwicklung unserer ländlichen Region einen wesentlichen Beitrag geleistet.

Mithilfe der Genossenschaften konnte also die Kleinstrukturiertheit erhalten bleiben.
Wolf: Das war auch immer die Idee. Die vielzitierte Subsidiarität heißt ja nichts anderes als: Was einer allein machen kann, sollte er allein machen. Was wir gemeinsam besser können, das machen wir gemeinsam. So hat der Einzelne eine bessere Überlebens- und Existenzchance, wenn er mit anderen dort zusammenarbeitet, wo er es alleine nicht schafft. Die Umsetzung dieses Prinzips ist uns gelungen und dieses Prinzip hat nach wie vor seine Gültigkeit und Berechtigung. 

Welche gesellschaftliche Bedeutung kommt den Lagerhaus-Genossenschaften in der heutigen Zeit zu? 
Wolf: Im ländlichen Raum haben wir mit 4,5 Milliarden Euro Umsatz eine wichtige wirtschaftliche Bedeutung – nicht mehr nur in der Landwirtschaft. Wir sind in den vergangenen 40 Jahren aus der Landwirtschaft deutlich hinausgewachsen. In den Bereichen Baustoffe und Haus & Garten sind wir der zentrale Versorger des ländlichen Raums. Die Gewerbeordnungs-Novelle in den 70er-Jahren hat die Möglichkeit geschaffen, nicht mehr nur mit unseren Mitgliedern Geschäfte zu machen, sondern auch mit allen Teilen der Bevölkerung. Damit war die Entwicklung im nicht-agrarischen Bereich freigegeben. Das wurde eine wesentliche wirtschaftliche Stütze für die Genossenschaften.

Welche sonstigen Meilensteine oder einschneidenden Momente haben die Lagerhaus-Organisationen vorangetrieben?
Wolf: Unmittelbar bei der Gründung war es die Versorgung mit landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die Übernahme und Lagerung von Getreide. Teilweise hatten die Genossenschaften damals auch Mühlen. Der zweite Meilenstein kam nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Entwicklung im Bereich der Landtechnik. Wir haben die Technisierung der Landwirtschaft mitbegleitet. In den 60er-Jahren wurde Österreich von einem Importland zum Selbstversorger und in den 80er-Jahren schließlich zu einem Exportland. Auch diese Transformation haben wir mit Silobau-Programmen begleitet. 

Welche Entwicklungen haben die jüngere Vergangenheit geprägt?
Wolf: Das war sicher die Strukturbereinigung im Genossenschaftswesen. Es gibt heute 36 Mitgliedsgenossenschaften bei der RWA, als die RWA vor 30 Jahren gegründet wurde, waren es rund 100. Ein Meilenstein war sicherlich auch die Gründung der RWA an sich, dass wir die Dreistufigkeit in eine Zweistufigkeit gebracht haben. Für uns als RWA ist es auch die Internationalisierung mit unserer strategischen Allianz mit der Baywa und der Ausweitung unserer Geschäftsaktivitäten auf angrenzende Länder.

Die ersten Lagerhaus-Genossenschaften hatten finanzielle Probleme. Wie stehen die Lagerhaus-Genossenschaften heute wirtschaftlich da?
Wolf: Sehr gesund. Wir haben eine gesunde Eigenkapitalbasis bei den Genossenschaften, was immer wichtig ist, weil sie damit ein verlässlicher Partner für die Landwirte und alle anderen Geschäftspartner sind. Wir sind österreichweit mit etwa 13.000 Mitarbeitern ein bedeutender Arbeitgeber. Die Genossenschaften investieren jährlich rund 100 Millionen Euro in den ländlichen Raum. Darüber hinaus haben wir genügend Investitionskraft, um zum Beispiel auch die Digitalisierung voranzutreiben. 

Wie spiegelt sich der landwirtschaftliche Strukturwandel bei den Lagerhaus-Genossenschaften wider?
Wolf: Die Lagerhaus-Organisation bildet die Strukturentwicklung der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe eins zu eins ab. Weniger Betriebe, die größer und leistungsfähiger geworden sind, erwarten sich auch leistungsfähigere Lagerhaus-Standorte, die ein entsprechendes Leistungsspektrum abbilden.

Ein bekannter Spruch sagt: Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass sich alles verändert. Wo muss sich die Lagerhaus-Organisation weiterentwickeln?
Wolf: Am besten ist es, wenn man auf die Kundschaft schaut und diese bei ihren Veränderungen begleitet. Ein Unternehmen hat immer dann eine Berechtigung und eine Überlebenschance, wenn es einen Nutzen für den Kunden stiftet. Da wird sehr viel im Bereich der Digitalisierung passieren und bei der Nachhaltigkeit. Wie kommen wir raus aus der fossilen Welt in eine nachhaltige Energieversorgung. Bei der Energietransformation wird die Landwirtschaft eine zentrale Rolle spielen.

Wie hat sich die Zahl der Mitglieder in den Lagerhaus-Genossenschaften entwickelt? Und welchen Vorteil hat es in der heutigen Zeit noch, Genossenschaftsmitglied zu sein? 
Wolf: Die Genossenschaft fußt auf dem Prinzip der Solidarität. Die Frage nach dem eigenen unmittelbaren Nutzen greift da zu kurz. Bei der Genossenschaft stellt sich eine andere Frage: Was können wir erreichen, wenn wir gemeinsam handeln und agieren. Dieses Gemeinsame steht im Mittelpunkt und das ist auch der Grund, warum man bei einer Genossenschaft Mitglied ist. Die Anzahl der Mitglieder ist mit 108.000 nicht dramatisch zurückgegangen. 

Raiffeisen ist bemüht, mehr Diversität in ihre Gremien und ins Management hineinzubringen. Wie gut gelingt das im Lagerhaus?
Wolf: Landwirtschaftliche Genossenschaften bilden die Landwirtschaft ab und das, glaube ich, machen wir recht gut. Trotzdem haben wir den Anspruch, diverser zu werden, wobei divers nicht nur Mann und Frau heißt, sondern auch Jung und Alt, unterschiedliche Ausbildung, unterschiedliche Herkunft – all das soll sich auch im Lagerhaus widerspiegeln. Viele Frauen sind Betriebsführerinnen, dementsprechend entwickelt sich auch die Anzahl der Funktionärinnen und wir haben mittlerweile zwei Aufsichtsratsvorsitzende. Das Ziel lautet natürlich, mehr Frauen und auch mehr junge Menschen zu haben. Mit unserem „Team Green“, dem Programm für Jungfunktionäre, gelingt das ganz gut, hier ist der Anteil der weiblichen Mitglieder auch deutlich höher. 

Viele Arbeitgeber beklagen, dass sie zu wenig Personal finden. Wie geht es den Lagerhaus-Organisationen? Ist man für junge Arbeitnehmer attraktiv?
Wolf: Das Lagerhaus ist attraktiv, vor allem im Bereich der Facharbeiter. Die Lagerhaus-Genossenschaften sind ein sehr beliebter Ausbildner, so bilden sie jährlich etwa 1.000 Lehrlinge aus. In Ballungszentren herrscht ein starker Wettbewerb um Facharbeiter, hier setzen wir auf Maßnahmen im Employer-Branding-Bereich. Das Image der Marke Lagerhaus unterstützt uns hier natürlich. 

„Man muss die Vielfalt, die von der Regionalität kommt, auch zulassen.“

Reinhard Wolf

Sie haben mit Digitalisierung und Nachhaltigkeit schon Zukunftsfelder angesprochen. Wie stark ist die Innovationskraft der Lagerhaus-Organisationen? 
Wolf: Im Vergleich zu unserer Branche und unserem Mitbewerb sind wir ein Pacemaker. Wir haben uns in den Genossenschaften vor Ort in den letzten Jahren sehr modernisiert – viele neue Standorte, viele junge Leute – auch im Top-Management-Bereich. Wir haben viel in die Digitalisierung investiert und die Lagerhaus-Welt in den letzten fünf Jahren mit neuen Systemen ausgestattet. Mit lagerhaus.at haben wir einen der modernsten Online-Auftritte im Handel. Mit Onfarming bieten wir für die Landwirte ein Full-Service-Package im Bereich Beratung, Einkauf und Handel. In Summe ist die Lagerhaus-Welt diesbezüglich modern aufgestellt, das heißt aber auch, sich jeden Tag weiterentwickeln. Um die übergeordneten Innovationen kümmern wir uns im Agro Innovation Lab. Wir bringen neue innovative Lösungen nach Österreich und prüfen sie auf Praxistauglichkeit. Hier nehmen wir eine urgenossenschaftliche Aufgabe wahr: Was einer alleine nicht kann, das können viele. Das ist auch das Zeitgemäße an der Genossenschafts-idee. 

Welchen Stellenwert hat das Thema Nachhaltigkeit im Gesamtbild von Lagerhaus?
Wolf: Landwirtschaft und Lagerhaus, das ist Nachhaltigkeit seit 125 Jahren. Bei uns ist immer in Generationen gedacht worden und wer in Generationen denkt, geht mit den anvertrauten Ressourcen stets verantwortungsbewusst um, egal ob das jetzt die Natur ist, der Boden ist oder ob es die Wirtschaftsgüter sind. 

Das Lagerhaus trägt das Wort Lager nicht umsonst in sich. Wie gut kommen die Lagerhaus-Genossenschaften ihrem Versorgungsauftrag nach?
Wolf: Lagerhaus heißt, dass sich viele Menschen darauf verlassen, von uns versorgt zu werden, in guten wie in schlechten Tagen. Das ist in erster Linie natürlich die Landwirtschaft mit Betriebsmitteln, Saatgut, Dünger, Pflanzenschutz und Futtermittel. Das ist uns in der schwierigen Zeit von Lieferkettenproblemen sehr gut gelungen. Gleichzeitig gibt es aber auch eine andere Seite: Aktuell, wo die Kapitalkosten steigen, trifft uns das wirtschaftlich. Wir müssen diese Lagerbestände auch finanzieren und das kostet uns sehr viel Geld. Heuer macht dies im Vergleich zu vor zwei Jahren einen zweistelligen Millionenbetrag aus. 

Also an der Lagermenge ändert die Preissituation nichts?
Wolf: Nein. Wir spekulieren ja nicht. Würden wir die Menge ändern, hieße das, wir spekulieren. Das tun wir nicht. 

Heute gibt es 63 warenführende Lagerhaus-Genossenschaften in Österreich. Der Zusammenhalt im Verbund scheint gut. Wie wichtig ist die Verbundarbeit?
Wolf: Wir haben in den letzten Jahren ein sehr positives und in die Zukunft gerichtetes Miteinander im Verbund entwickeln können. Es ist vieles weitergegangen an gemeinsamen Projekten. Wir beschäftigen uns heute viel mehr mit dem Markt als mit uns selbst, und da wirken alle daran mit. Dafür kann ich mich an der Stelle bei allen Lagerhaus-Genossenschaften, die das mittragen, nur bedanken.

Gibt es noch Bereiche, wo Sie sich mehr Zusammenarbeit vorstellen könnten?
Wolf: Das ist ein ständiger Prozess, regional und auch branchenspezifisch unterschiedlich. Wir sind auf einem sehr guten Weg. Was man aber auch immer akzeptieren sollte, ist eine gewisse Vielfalt und Buntheit. Die macht uns aus und stärkt uns. Wir können nicht von Regionalität reden, und wenn jemand regional agiert, uns dann darüber ärgern. Man muss die Vielfalt, die von der Regionalität kommt, auch zulassen.

Reinhard Wolf im Interview
© RZ/Sabine Klimpt

Hat es in der 125-jährigen Geschichte noch nie Überlegungen gegeben, die Lagerhaus-Organisation zu zentralisieren?
Wolf: Die Frage hat sich nie gestellt, stellt sich nicht und wird sich auch nicht stellen. Wir haben ein sehr gutes Modell, Entscheidungen werden vor Ort getroffen, nahe an den Kunden und Mitgliedern. Dort, wo das Geld verdient wird, wird es auch wieder investiert – von Menschen, die die örtlichen Gegebenheiten kennen. Das macht schon Sinn.

Die RWA feiert heuer auch ein Jubiläum, 30 Jahre.
Wolf: Erfreulich daran ist die Entwicklung. In den ersten Jahren waren die zentrifugalen Kräfte mehr als die zentripedalen. Viele hatten Zweifel, ob das der richtige Weg ist. Wir sind heute schon sehr weit gekommen, bleiben aber trotzdem bescheiden und demütig. Wir haben bewusst keine große Feier gemacht, sondern zeigen genossenschaftliche Solidarität und unterstützen heuer 30 soziale Projekte. 

Würde es die Lagerhaus-Genossenschaften noch nicht geben, warum müsste man sie erfinden?
Wolf: Aus genau dem Grund, weshalb sie vor 125 Jahren gegründet wurden. Was einer allein nicht schaffen kann, das schaffen viele. Es gibt so viele Aufgaben in der heutigen Welt, wo der Einzelne vor einer riesengroßen Mauer steht und nicht weiß, wie er sie überwinden kann. 

Wo müssten die Lagerhaus-Genossenschaften in zehn Jahren stehen, damit Sie zufrieden sind?
Wolf: Sie müssen ganz eng, Seite an Seite, bei den Landwirten stehen, weil die Mitgliederförderung der wichtigste Auftrag ist, den die Lagerhaus-Genossenschaften zu erfüllen haben.

AusgabeRZ42-2023

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