„Das Thema Nachhaltigkeit ist gekommen, um zu bleiben“

Franz Fischler als Vorsitzender und Andrea Sihn-Weber als Geschäftsführerin haben die Raiffeisen Nachhaltigkeits-Initiative (RNI) von Beginn an „nachhaltig“ geprägt und weiterentwickelt. Wir sprachen mit ihnen über Leuchtturmprojekte und Chancen in der Krise.

Die RNI feiert heuer ihr 15-jähriges Bestehen. Worin lag der Fokus in den ersten Jahren nach der Gründung im Jahr 2007 und wo liegt er jetzt?
Franz Fischler: Die RNI wurde ursprünglich als Raiffeisen Klimaschutz-Initiative gegründet. Die Idee, eine solche Initiative zu gründen, kam ursprünglich von Christian Konrad und ich glaube zu Recht. Denn schon Anfang der 2000er-Jahre haben sich verschiedene Raiffeisen Organisationen mit Klimafragen beschäftigt. Bei der Gründung ging es zunächst darum, diese Initiativen und Aktivitäten zu bündeln. Schon damals war klar, dass sich Raiffeisen den Zukunftsthemen Klima und Nachhaltigkeit aufgrund seiner Ideologie unbedingt widmen muss. Unsere Ambition war, zu den Besten in Österreich, aber nach Möglichkeit auch darüber hinaus zu zählen. Aus den zwölf Gründungsmitgliedern sind mittlerweile 22 Mitglieder geworden und wir haben im Laufe der Jahre die RNI weiterentwickelt. Dies erschien sinnvoll – auch in Verbindung mit neuen Initiativen auf EU-Ebene wie etwa dem Green Deal und den Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen. Diese thematische Erweiterung vom Klima zur Nachhaltigkeit machte aus der Raiffeisen Klimaschutz-Initiative vor fünf Jahren die Raiffeisen Nachhaltigkeits-Initiative. Damit ist das Thema in den Chefetagen angekommen.

Was sind Ihre persönlichen Gründe und was ist Ihre Motivation, dass Sie von Beginn an als Vorsitzender der RNI tätig waren?
Fischler: Ich habe mich schon früh mit grünen Themen beschäftigt. Eigentlich schon als Jugendlicher und nach dem Studium, als ich an der BOKU gearbeitet habe und Erhard Busek damals grüne Ideen in Form von Stadtfesten und Grätzlfesten in die Öffentlichkeit brachte. Und dann natürlich in meiner Zeit als Minister und später als EU-Kommissar und als Präsident des Ökosozialen Forums. Mich hat dieses Thema eigentlich mein ganzes Leben lang interessiert. Dabei ist immer deutlicher zum Vorschein gekommen, dass Nachhaltigkeit mehr als nur grün sein muss. Unsere große Herausforderung besteht darin, ein stabiles und einigermaßen robustes Gleichgewicht zwischen den drei Dimensionen der Nachhaltigkeit – Ökologie, Ökonomie und sozialer Verantwortung – zu schaffen. 

RNI-Vorstand Franz Fischler im Gespräch
(c) Sabine Klimpt

Seit fast 11 Jahren verantworten Sie, Frau Sihn-Weber, inzwischen die Geschäftsführung der RNI. Welche Highlights der letzten Jahre fallen Ihnen spontan ein und was ist das Besondere daran?
Andrea Sihn-Weber: Da es sich bei Nachhaltigkeit um eine Querschnittsmaterie handelt, ist mir generell eine Ausgewogenheit bei unseren Projekten wichtig, und natürlich die Bewusstseinsbildung für die Relevanz des Themas. Daher zählt unsere langjährige Kooperation mit dem Jugend Innovativ Wettbewerb, in welchem junge Menschen sich in der RNI-Sonderpreiskategorie „Sustain-ability-Award“ mit Nachhaltigkeit beschäftigten, jedenfalls zu unseren Highlights. Damit wurden Jugendliche motiviert, ihre Ideen zu den wichtigen Handlungsfeldern der Nachhaltigkeit einzubringen. Im letzten Frühjahr ging der erste Platz in unserer Sonderkategorie beispielsweise an ein Strohdämmungsprojekt mit einem rein biologischen Bindemittel. 
Zusätzlich zu den Handlungsfeldern Umwelt, CO2-Reduktion, Energieeffizienz und erneuerbare Energien gewinnt in letzter Zeit auch das Thema Menschenrechte immer mehr an Bedeutung. Denn, es wirkt in viele Bereiche eines Unternehmens hinein und betrifft die Lieferketten, Mitarbeitende und Kunden. Daher haben wir 2020 beschlossen, uns diesem Thema verstärkt zu widmen und als einen wichtigen Meilenstein ein Menschenrechts-Rahmenwerk erarbeitet. Dies erfolgte gemeinsam mit dem Ludwig-Boltzmann-Institut. Und ein drittes Projekt, das ich erwähnen möchte, klingt so herausfordernd, wie es ist: Nämlich die Auseinandersetzung mit wissenschaftlich basierten Klimazielen der Science Based Targets Initiative, die Methoden und Kriterien für validierte Unternehmensziele entwickelt hat. Mit intensiven Workshops haben wir erste wichtige Schritte gesetzt, damit die Mitglieder konkrete Handlungsempfehlungen für ihre Unternehmen ableiten können.

Gibt es für Sie, Herr Fischler, ein Projekt, auf das Sie besonders stolz sind?
Fischler: In meinen Augen geht das wichtigste Projekt auf das Jahr 2015 zurück, als die Sustainable Development Goals der UNO und darüber hinaus auch noch das Pariser Klimaabkommen beschlossen wurden. Um mit gutem Beispiel voranzugehen, haben wir 2017 zusammen mit dem Umweltbundesamt eine Raiffeisen Klimastrategie als Orientierungs- und Handlungsrahmen für unsere Mitgliedsorganisationen entwickelt, die sehr ambitioniert ist und noch dazu messbare Ziele enthält. Die Umsetzung der entsprechenden Maßnahmen liegt dabei in der Verantwortung der einzelnen Mitgliedsunternehmen. Die Klimapolitik bildet die Basis für diese Klimastrategie, die drei Kernbereiche umfasst, nämlich „Produkte & Services“, „Betrieb, Prozesse & Strategien“ und „Dialog & Komm­unikation“. 

„Es ist wichtig, pioniere zu fördern und gute konzepte vor den vorhang zu holen.“

Franz Fischler

Wie hat sich die vor fünf Jahren präsentierte Klimastrategie der RNI-Mitgliedsorganisationen weiterentwickelt? 
Sihn-Weber: In den drei Kernbereichen wurden konkrete Maßnahmen bis 2030 definiert, aber die Zielwerte 2021 gemäß dem EU-Plan „Fit für 55“ angepasst. Und es wurden erfreulicherweise auch schon einige Teilerfolge erzielt. Im Bereich der „Produkte & Services“ wollen die Mitglieder den Anteil klimafreundlicher Produkte und Services am jeweiligen Portfolio auf 30 Prozent erhöhen und die Treibhausgas-Emissionen in den Kundenveranlagungen um mindestens 30 Prozent im Vergleich zu 2015 reduzieren. Bei „Betrieb, Prozesse & Strategien“ setzen sich die Mitglieder Ziele zu Energieeffizienz, Treibhausgasemissionen, Mobilität und erneuerbarer Energie: Konkret bedeutet dies eine Steigerung der Energieeffizienz um mindestens 35 Prozent und eine Reduktion der Treibhausgas-Emissionen um mindestens 30 Prozent. Ein Unterziel ist hier die Mobilität, wo die Emissionen um mindestens 55 Prozent reduziert werden sollen – per Ende 2021 lag die Reduktion bei minus 37 Prozent. Weiters soll der Anteil erneuerbarer Energien am Strom- und Wärme-Verbrauch auf mindestens 85 Prozent steigen. Ende 2021 lag der Wert bereits bei 68 Prozent, eine Zielerreichung ist also sehr wahrscheinlich. Und letztlich ist es im Kernbereich „Dialog & Kommunikation“ ein wichtiges Ziel, eine Vorreiterrolle – im Vergleich zu den Mitbewerbern in der DACH-Region in der Klimakommunikation mit den Stakeholdern einzunehmen. Hier hat sich etwa die Zahl der Veranstaltungen von unter 100 pro Jahr auf über 1.000 vervielfacht.

Wie hängt diese Klimastrategie mit der aktuell erstellten Treib­hausgasbilanz der Raiffeisen Bankengruppe zusammen?
Sihn-Weber: Die Themen sind inhaltlich sehr ähnlich. Aus Inputfaktoren wie Raumwärme, Stromeinsatz, Kältemittelverluste, Papiereinsatz, Geschäftsreisen sowie der Mitarbeiteranreise errechnete das Umweltbundesamt eine Treibhausgasbilanz. Und weist auch konkrete Einsparpotenziale aus. Darüber hinaus wurden volkswirtschaftliche Effekte analysiert und klimarelevante Effekte von nachhaltigen Finanzierungen und Investitionen dargestellt. So zeigt sich beispielsweise, dass für die Jahre 2016 bis 2021 in der Raiffeisen Bankengruppe in Österreich 108 Mio. Euro an nachhaltigen Investitionen – beispielsweise in die eigene Gebäudeeffizienz – getätigt und damit eine Wertschöpfung von 61,3 Mio. Euro generiert, 618 Arbeitsplätze geschaffen und 155.000 Tonnen CO2 rechnerisch eingespart werden konnten. 
Fischler: Es geht somit darum, Wirtschaft und Gesellschaft mit Nachhaltigkeit zu durchdringen. Und da setzen wir hauptsächlich an drei Stellen an: Erstens, bei unseren Produkten: Die sollen nachhaltig sein bzw. soll der Anteil nachhaltiger Produkte weiter steigen. Zweitens, bei uns selbst: Raiffeisen verfügt über eine große Zahl an Gebäuden, Anlagen, Kraftfahrzeugen etc., die alle möglichst nachhaltig genutzt werden sollen. Und drittens, bei unseren Kunden: Wie kann Raiffeisen mithelfen, damit sich unsere Kunden ebenfalls immer nachhaltiger verhalten und wirtschaften? 

Wie werden die Entwicklungen der letzten Jahre – vor allem in Bezug auf den Green Deal und die deutlich gestiegenen regulatorischen Anforderungen in Zusammenhang mit der Nachhaltigkeit – von den RNI-Mitgliedern eingeschätzt?
Fischler: Der Anspruch, der in der Öffentlichkeit und an Unternehmen gestellt wird, steigt ständig. Wichtig ist, in die Planungen und in die Strategien Verlässlichkeit und Kontinuität hineinzubringen. Das gilt ganz besonders im Bereich der Taxonomie, wo über Nacht teilweise andere Voraussetzungen geschaffen worden sind, Beispiel Atomstrom. Der Fokus lag früher primär auf der ökologischen Dimension der Nachhaltigkeit. Mittlerweile kommt auch die soziale Dimension stärker zum Tragen – im ländlichen Raum etwa durch Maßnahmen gegen Abwanderung oder Überalterung. Wichtig wäre dabei auch – und das sehe ich ein bisschen als Aufgabe der Öffentlichkeit – die Dinge mehr zu kontrollieren, um Greenwashing zu vermeiden und sicherzustellen, dass letztendlich viele Unternehmen und Personen die Gewinner sind. 

RNI-Geschäftsführerin Andrea Sihn-Weber im Gespräch
(c) Sabine Klimpt

Wie unterstützt die RNI ihre Mitglieder bei der Umsetzung der stets zunehmenden Vorgaben in puncto Nachhaltigkeit?
Sihn-Weber: Was wir von Anfang an gemacht und in den letzten Jahren noch intensiviert haben, ist Best Practice Sharing mit den Nachhaltigkeitsverantwortlichen der Mitgliedsunternehmen, aber auch Wissensvermittlung zu ESG-Themen. Dazu laden wir in unsere Arbeitskreissitzungen externe Experten für Inputs ein. Dabei geht es etwa um Themen wie neue Anforderungen beim Reporting oder in der Prüfung von Nachhaltigkeitsberichten, Maßnahmen zur Barrierefreiheit oder Informationen zu CO2-Kompensationssystemen, Biodiversität und Humusaufbau. Und wir koordinieren gemeinsame Projekte wie die erwähnte Entwicklung der Menschenrechts-Dachpolicy oder die Auseinandersetzung mit state-of-the-art-Themen wie jene der Science based targets und die heurige Erhebung der österreichweiten Treibhausgasbilanz. Natürlich gibt es auch umfassende Kommunikationsmaßnahmen. Und wir organisieren Umfragen unter den Mitgliedern. Wichtig ist mir jedenfalls ein enger Schulterschluss und der kontinuierliche Austausch mit allen RNI-Mitgliedern im Sinne unserer Vision „Verantwortung für eine lebenswerte Zukunft“.
Fischler: Im Wesentlichen geht es uns darum, unsere Mitglieder zu unterstützen und gemeinsame Projekte zu initiieren. Wir stellen nicht 22-mal dieselbe Recherche an, sondern machen das einmal für alle. Darüber hinaus steigen auch die Anforderungen an das Personal, an die Menschen, die beispielsweise in einer Raiffeisenbank am Schalter stehen. Der Beratungsaufwand bei den Kunden im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit steigt rasant. Der Aufbau von Kompetenz ist hier ein Gebot der Stunde.

Welchen Einfluss haben die aktuellen Krisen – Ukraine, Klima, Energie, Inflation – auf die nachhaltige Ausrichtung in den Mitgliedsunternehmen?
Fischler: Es gibt eine ganze Reihe fundamentaler Probleme in unseren modernen Gesellschaften. Das ist jetzt nicht spezifisch österreichisch oder spezifisch Raiffeisen. Das schwierigste davon ist, dass zu den schon vorhandenen großen Schwierigkeiten und Problemen immer noch neue dazu kommen und von den alten aber nur wenige oder gar keine gelöst werden. Die wirklich fundamentale Herausforderung besteht darin, dass wir uns nicht der Illusion hingeben und sagen können, jetzt haben wir Krieg und Corona, daher haben wir jetzt fürs Klima keine Zeit mehr. Die Herausforderung besteht darin, dass wir die vorhandenen Probleme gemeinsam lösen, denn was wir am wenigsten zur Verfügung haben, ist Zeit. Zeit ist im Zusammenhang mit den aktuellen Problemen der knappste Faktor. Und gerade was das Klima betrifft, ist das Gefährliche, dass es die sogenannten Tipping Points gibt. Also mit einfachen Worten ausgedrückt: Wenn jemand über die Klippe geht, dann braucht er nicht mehr nachzudenken, wie es gewesen wäre, wenn oder was vorher alles war. Wir haben jetzt vielleicht noch acht bis zehn Jahre Zeit, um die Wende zu schaffen. Das heißt nicht, dass wir bis dahin alle Probleme lösen. Aber wenn wir bis dahin die Wende nicht schaffen, dann sind wir dabei, über die Klippe zu gehen. 

„Wir wollen vorbild sein, leuchtturmprojekte identifizieren und unser netzwerk nützen.“

Andrea Sihn-Weber

Wo wird die RNI in den kommenden Jahren ihre Schwerpunkte setzen? 
Sihn-Weber: Man merkt bei Diskussionen zum Thema Nachhaltigkeit, dass viele Unternehmen mit ähnlichen Problemstellungen kämpfen: Wie schaffe ich mehr Energieeffizienz im Unternehmen, wie gehe ich bestmöglich mit den neuen Reportinganforderungen um oder wie unterstütze ich beispielsweise eine nachhaltige Mitarbeiteranreise. Daher möchten wir uns – zusätzlich zu den laufenden Maßnahmen und Kooperationen – verstärkt dem Thema „Chancen in der Krise“ widmen und in diesem Zusammenhang „best practices“ für unterschiedliche Nachhaltigkeitsprobleme sammeln und aufbereiten. Perspektivisch kann sich daraus eine offene Plattform für Lösungen zu gemeinsam priorisierten nachhaltigen Herausforderungen entwickeln. Letztlich geht es uns darum, dass wir Vorbild sein wollen, dass wir Leuchtturmprojekte identifizieren und auch unser Netzwerk bestmöglich nutzen wollen.
Fischler: Es ist wichtig, dass wir Pioniere fördern. Zudem muss man gute Konzepte vor den Vorhang holen, damit das Voneinander-Lernen funktioniert und damit wir gemeinsam die Dinge vorantreiben. Man muss sich bewusst sein: Die Zeiten des business as usual sind vorbei. Es geht darum, dass Nachhaltigkeit zum usual business wird. Das Thema Nachhaltigkeit ist gekommen, um zu bleiben. 

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