Jahrtausendealte Traditionen in Europa

Das umfangreiche Wissen rund um Traditionelle Bewässerung sowie die nachhaltige Naturweidewirtschaft (Transhumanz) ist nun Teil des Immateriellen UNESCO-Kulturerbes geworden. Koordiniert wurde dieses Bemühen von Österreich in Zusammenarbeit mit Belgien, Deutschland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden und der Schweiz.

Transhumanz in den Ötztaler Alpen gehört zum Immateriellen Kulturerbe
Die Wanderungen in den Ötztaler Alpen – zwischen Tirol und Südtirol – gelten als die einzige grenzüberschreitende Transhumanz, die über Gletscher führt. © Kulturverein Schnals

Die „Repräsentative Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit“ ist eine von drei internationalen Listen, die die UNESCO im Rahmen des Übereinkommens zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes seit 2008 erstellt. Die Repräsentative Liste umfasst kulturelle Ausdrucksformen wie etwa Tanz, Theater, Musik und mündliche Überlieferungen sowie Bräuche, Feste und Handwerkskünste. Die Liste wurde mit dem Ziel eingerichtet, das Immaterielle Kulturerbe weltweit sichtbar zu machen und das Bewusstsein um die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen zu schützen und zu stärken. Neben dem Immateriellen Kulturerbe wie der finnischen Saunakultur, der iranischen Teppich-Knüpfkunst, dem Reggae aus Jamaika oder der italienischen Geigenbaukunst befinden sich folgende österreichische Praktiken auf der Repräsentativen Liste: die Falknerei, der Imster Schemenlauf, die Hohe Schule der Klassischen Reitkunst der Spanischen Hofreitschule, das Wissen im Umgang mit Lawinengefahr, die Handwerkstechnik des Blaudrucks, das Wissen um die Lipizzanerzucht und die Flößerei. 

Im Dezember 2023 sind zwei weitere dazugekommen: die um sieben Länder erweiterte „Transhumanz – den Jahreszeiten folgende Alm- bzw. Weidebewirtschaftung“ und die Traditionelle Bewässerung. Beide prägen nicht nur die umliegenden Landschaften nachhaltig, sondern sind auch tief in der Identität der ausübenden Träger verankert, wie Sabine Haag, Präsidentin der Österreichischen UNESCO-Kommission, betont, „denn Immaterielles Kulturerbe wird von den Menschen getragen, die es ausüben. Vor diesem Hintergrund freut es mich sehr, dass diese beiden multinationalen Eintragungen nun auch für Österreich die Vielfalt von lebendigem Erbe international bereichern.“ 

Positiver Effekt

Traditionelle Bewässerung ist eine landwirtschaftliche Bewässerungsart, die auf strategischer Nutzung der Schwerkraft und manuell angelegter Konstruktionen wie Kanäle und Gräben beruht, um Wasser aus verschiedenen natürlich vorkommenden Quellen in die Felder zu leiten. Die Bewässerer wählen bestimmte – oft über Regelwerke vorgegebene – Zeiträume aus, an denen sie das Wasser aus den Kanälen zu den Feldern umleiten. Um die Felder zu bewässern, werden vorübergehend kleine Gräben ausgehoben oder das Wasser aufgestaut und künstliche Überläufe geschaffen. Ein umfangreiches Verständnis der Landschaft, des Wasserflusses und der Wetterbedingungen ist erforderlich, um diese Methode nachhaltig und effizient anwenden zu können. 

Traditionelle Bewässerung
Die Praxis der Traditionellen Bewässerung geht bis in die Jungsteinzeit zurück. © Switzerland Tourism/André Meier and SL-FP

Dieses Jahrtausendealte Wissen trägt in der Praxis dazu bei, vor Hochwassergefahren zu schützen, sowie die Auswirkungen der Klimakatastrophe auf lokaler Ebene abzumildern. Ein positiver Effekt stellt sich auch in der Erhaltung und Erhöhung der lokalen Biodiversität ein. Es ist eine auf die biologische Vielfalt ausgerichtete Lösung für die Wasserversorgung in der Landwirtschaft, und dies seit den Anfängen der Sesshaftigkeit der Menschen in Europa, denn die Geschichte der Traditionellen Bewässerung hat in Europa eine sehr lange Geschichte. Christian Leibundgut und Ingeborg Vonderstrass erklärten im Buch „Traditionelle Bewässerung – Ein Kulturerbe Europas“, dass die Bewässerung so alt ist wie die Landwirtschaft selbst, die bis in die Jungsteinzeit beziehungsweise ins Neolithikum zurückgeht. Somit wäre die Bewässerung autochthon, indigen und damit weitgehend gleichzeitig in Europa entstanden.

Und tatsächlich weisen die Bewässerungssysteme in vielen Teilen Europas erstaunlich einheitliche Grundstrukturen auf. Trotz unterschiedlicher Voraussetzungen sind Bewässerungstechnik und Einrichtungen wie Kanäle und Wehre aller Größenordnungen oft sehr ähnlich. Längst ziehen Forschende Analogien zwischen Europa und den Bewässerungs­gebieten in den Anden und in asiatischen Gebirgsräumen. Der älteste Nachweis europäischer Bewässerung ist übrigens aus der Walachei im heutigen Rumänien bekannt. Der Fund wird auf 5000 – 7000 v. Chr. datiert und dokumentiert Rieselbewässerung aus den Flüssen Dâmbovița und Donau. Übrig geblieben von einer jahrtausendealten europaweiten Kultur sind nur noch vereinzelte funktionierende Bewässerungsregionen in Südeuropa und kleinere örtliche Bewässerungsregionen in den Alpen, Karpaten und Skanden sowie Relikte in der Kulturlandschaft und Beschreibungen in unzähligen Dokumenten. 

Alpine Karawane

Als Transhumanz wiederum ist die nachhaltige Naturweidewirtschaft gemeint, insbesondere in Bezug auf die Nutzung natürlicher Ressourcen und Landbewirtschaftung, deren Traditionsträger über ein großes Erfahrungswissen in den Bereichen Umwelt, ökologisches Gleichgewicht und Klimakatastrophe verfügen. In Österreich gibt es die Transhumanz vor allem in den Ötztaler Alpen. Die Wanderungen – ausgehend von Südtirol nach Tirol und zurück – gelten als die einzige grenzüberschreitende Transhumanz in den Alpen, die über Gletscher führt. Über viele Generationen hinweg haben sich durch die Transhumanz soziale und kulturelle Beziehungen zwischen den Menschen diesseits und jenseits der Berge entwickelt. Alte Rituale und Bräuche wie etwa das Festlegen der Weideplätze und die Zahl der Schafe, die Bezahlung oder der gemeinsame Kirchgang vor dem Übertrieb werden bis heute ausgeübt. 

Transhumanz
Unter Transhumanz versteht man die den Jahreszeiten folgende Wanderweidewirtschaft. © Valter Stojšić

„Etwa 10.000 Schafe“, so kann man im Buch „Ein Erbe für alle“ nachlesen, „verbringen die Sommer auf den Ötztaler Weiden. Diese Bewirtschaftung erhält die artenreichen Bergwiesen, eine harmonische Kulturlandschaft, gepflegt dank der Schafherden und geschätzt von Wanderern und Touristen.“ Bis zu 44 Kilometer über Fels und Gletscher, Schneefelder und hochalpine Steige werden in ein bis zwei Tagen bewältigt, angetrieben vom Bellen der Hirtenhunde und den Rufen der Schäfer. In der hölzernen Buckelkraxen tragen Männer die im Frühjahr geborenen Lämmer am Rücken. Auch diese Tradition ist gewissermaßen steinalt. Funde und Bodenanalysen im Ötztal zeugen von früher Weidenutzung, die bis ca. 6.000 v. Chr. zurückreicht. 

Kunst- und Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer über die Aufnahme in die UNESCO-Kulturerbe-Liste: „Sowohl die Traditionelle Bewässerung als auch die Transhumanz zeigen die enge Verbindung von Natur und Mensch. Die Weitergabe dieses traditionsreichen Wissens und der erforderlichen Fertigkeiten sind ein wichtiger europäischer Kulturfaktor und dienen der nachhaltigen Entwicklung, insbesondere im Umgang mit regionalen Ressourcen.“