Nach jahrelanger expansiver Geldpolitik mit Negativzinsen hat die Europäische Zentralbank (EZB) angesichts der stark gestiegenen und von ihr offenbar unterschätzten Inflation nun die Handbremse gezogen. Mit der Anhebung des Leitzinses um 50 Basispunkte auf 0,5 Prozent Ende Juli schlug sie in der Eurozone ein neues geldpolitisches Kapital auf. Erst zum dritten Mal in ihrer Geschichte sah sich die EZB zu so einem kräftigen Schritt veranlasst. Weitere dürften folgen.
„Die EZB ist seit Mitte Juni unter Druck gekommen, etwas für die Renditen zu machen und ist daher wahrscheinlich auch schneller aus der Deckung gekommen als geplant“, erläutert Gunter Deuber, Leiter von Raiffeisen Research, die Hintergründe für die eingeläutete Kehrtwende. Den ersten Zinsschritt sieht Deuber als Signal für eine weitere Zinserhöhung im September, die erneut mindestens 50 Basispunkte betragen dürfte. Aufgrund der zu niedrigen Inflationsschätzung der EZB – 6,8 Prozent für heuer und 3,5 Prozent für 2023 – rechnet der Raiffeisen-Analyst auch bei den Zinssitzungen im Oktober und Dezember 2022 mit weiteren Zinsanhebungen im gleichen Ausmaß, sodass am Ende des Jahres der Leitzins bei 2 Prozent ankommen dürfte, vielleicht auch etwas darüber. Am Ende des ersten Quartals 2023 könnte der Leitzins noch weiter auf 2,5 Prozent steigen, womit zunächst ein Plateau erreicht werden würde. „Der Zinserhöhungszyklus könnte in ein leicht restriktives Niveau münden“, so Deuber. Diese Zinserwartung liege am oberen Ende der Szenarien, der Markt preist bis Ende März 2023 einen geringeren Leitzins von 1,75 Prozent ein.
„Die EZB hat jetzt sicher den stärksten Zinsanhebungszyklus in ihrer Geschichte vor sich. Sie hat davor acht Jahre lang einen Prozess gestartet, der zu fallenden Konditionen nicht nur bei den realen, sondern auch bei nominalen Zinsen geführt hat. Das war ein extrem künstliches Niveau“, betont Raiffeisen-Chefanalyst Peter Brezinschek. Bereits im Juni habe EZB-Präsidentin Christine Lagarde angekündigt, dass die EZB beim Tempo und Zielwert der Zinserhöhungen „datengetrieben“ vorgehen werde, was ein Ende der „Forward-Guidance“ bedeute. „Die Volatilität der Zinssätze, aber auch der Renditen dürfte mit den kommenden Wirtschafts- und Inflationsdaten erhöht bleiben“, sind sich die beiden Finanzexperten einig.
Die EZB lege den Fokus auf die Inflationsbekämpfung und werde eine gewisse Konjunkturabschwächung tolerieren, ist Deuber überzeugt. Gleichzeitig möchte sie im Zinsanhebungszyklus möglichst weit kommen, bevor die Konjunkturrisiken möglicherweise schlagend oder vielleicht sogar größer werden, als von ihr erwartet. Im ersten Quartal 2023 könnte eine Industrierezession, aber auch eine technische gesamtwirtschaftliche Rezession – also eine schrumpfende Wirtschaft zumindest zwei Quartale hintereinander – „ein großes Thema werden“.
Deswegen sei die Rationalität der EZB gewesen, jetzt eher einen kräftigen Schritt zu machen und damit den EZB-Mitgliedern entgegenzukommen, die schon lange auf eine Zinswende drängten. Im Abtausch dafür wurde ein neues geldpolitisches Instrument – das Staatsanleihenkaufprogramm Transnational Protection Instrument (TPI) – verkündet. Damit stehen der EZB nun drei Kaufprogramme zur Verfügung. Das TPI soll starke Renditenanstiege vor allem bei den hochverschuldeten Euro-Staaten verhindern. Es gebe aber sehr wenig Details und damit viele offene Fragen zum TPI wie Laufzeiten, die Behandlung bereits erworbener Anleihen in den bisherigen Kaufprogrammen und was ein „fairer Spread“ zwischen den Anleihen der einzelnen Länder sein könnte. „Die EZB wird wahrscheinlich hinsichtlich des TPI von den Märkten, aber auch vor Gericht auf die Probe gestellt werden. Vor allem Letzteres könnte den Handlungsspiel der EZB einschränken“, warnt Deuber.
„Das ist ein bewusster Schritt der EZB hin zur Unterstützung der Fiskalpolitik“, so Brezinschek. Das Gebot der Stunde angesichts der starken Inflationsentwicklung wäre aber ein fiskalpolitischer Konsolidierungskurs, von dem man aber noch nicht viel höre. „Das, was von den Regierungen großteils gemacht wird, ist Inflationsbeschleunigung“, kritisiert der Chefanalyst. „Denn mit den vielen Hilfsprogrammen und den Transferzahlungen werden Substitutions-, Einsparungs- und Umlenkungseffekte in andere, weniger von der Teuerung betroffene Güterkategorien verhindert. Das ist von extremem Populismus getrieben“, kritisiert Brezinschek.
Börsen auf Erholungskurs
Die relativ positive Reaktion der Finanzmärkte auf die Zinswende erklären die Raiffeisen-Experten mit langfristig erwarteten gesamtwirtschaftlichen Vorteilen aus der Inflationsbekämpfung. „Die EZB hat den langfristigen Kapitalmarktzins viel stärker als die US-Notenbank Fed nach unten gedrückt, weil sie mehr Maßnahmen eingesetzt hat. Zeitweise war der Kapitalmarktzins durch Negativzinsen, lange Zinsversprechen und die Aktiva-Käufe um bis zu 200 Basispunkte nach unten verzerrt. Wenn wir wieder auf ein gesünderes Zinsniveau kommen, dann ist es in Summe auch für die Finanzmärkte sinnvoller – und darauf setzen sie“, analysiert Deuber. Darüber hinaus werde auch eine Entspannung auf der US-Zinsfront erwartet, die im Anhebungszyklus viel weiter als die EZB ist. Dort dürfte die US-Fed nach einer nochmaligen Leitzinsanhebung um 75 Basispunkte das Zinstempo aber drosseln, um die Konjunktur nicht zu gefährden.
Brezinschek weist darauf hin, dass die EZB durch den globalen Zinsanhebungstrend etwa in den USA, in der Schweiz und den skandinavischen Ländern in Zugzwang geraten sei: „Die EZB agiert nicht im luftleeren Raum.“ Außerdem könne sie bei der anhaltenden Euro-Schwäche nicht tatenlos zuschauen. Die Gemeinschaftswährung habe sich seit 18 Monaten dramatisch abgeschwächt. Das bringe auch die Konjunktur unter Druck. So hätten die Produzentenpreise in den USA zuletzt um 11,5 Prozent zugelegt, in Europa dagegen um 26 Prozent. „Dafür ist der schwache Euro mitverantwortlich und die EZB hat mit ihrer laxen Geldpolitik, dem langen Zuwarten und dem Ignorieren der Inflation einen wesentlichen Anteil daran“, sagt der Chefanalyst.
Für einzelne Sektoren wie den Bankensektor habe die Zinswende tendenziell positive Wirkung, betont Deuber und erklärt: „Gerade am Anfang der Zinserhöhungen entsteht ein größerer Überwälzungsspielraum für die Banken.“ Hier müsse man aber differenzieren zwischen jenen Banken, die stark in CEE tätig sind, wo es kaum marktverzerrende Effekte durch die Notenbanken gab, und der Eurozone, wo mit der Zinswende auch ein paar Sondereffekte auslaufen könnten wie die von der EZB aufgelegten langfristigen Refinanzierungsgeschäfte, die für die Banken teilweise sehr günstig waren.
Kein Konjunkturschock erwartet
Für die weitere Konjunkturentwicklung spiele vor allem die Energieverfügbarkeit eine entscheidende Rolle, sind sich beide Analysten einig. „Seit dem Frühjahr (dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, Anm.) wissen wir, dass es in den Energiebeziehungen schwierig wird“, sagt Deuber. Außerdem gebe es die Unsicherheitskomponente, wie der Winter werde. „Aber man könnte relativ weit ins Jahr 2023 kommen, je nachdem wie die Befüllung der Gasspeicher vorankommt und die intraeuropäische Solidarität wirkt“, betont der Finanzexperte. Viele Unternehmen und weite Teile der Industrie bereiten sich auf einen möglichen Gaslieferstopp aus Russland vor, ein solcher Schritt sollte Europa daher nicht wie „ein externer Schock“ treffen. „Deshalb teilen wir die großen Horrorszenarien von einem großen Wirtschaftseinbruch von 6 Prozent und mehr nicht“, stellt Deuber klar. Für das möglicherweise schwierige Wirtschaftsjahr 2023 erwartet Raiffeisen Research ein Wirtschaftswachstum um 1 Prozent in der Eurozone, wobei die Wirtschaft in ein, zwei Quartalen auch stagnieren bzw. schrumpfen könnte. Fraglich sei, wie lang der Dienstleistungssektor noch einigermaßen gut laufen werde, denn coronabedingte Nachholeffekte werden wohl auslaufen.
„Es gibt auch Überersparnisse, die genutzt werden, um die Inflationsauftriebe zu kompensieren. Dass der private Konsum in der Eurozone, der sich abschwächt, massiv einbricht, was für eine tiefe Rezession notwendig wäre, sehen wir derzeit nicht“, so Deuber. Die europäische Wirtschaft könnte aber durchaus vor einer Phase der längeren Neuausrichtung stehen, die sich bis 2024 mit einem schwachen Wachstum hineinziehen könnte. Deshalb seien grundsätzlich Strategien, die auf billiges Gas und Rohstoffimporte aufbauen, zu hinterfragen. In Österreich erwartet Peter Brezinschek, dass die Inflation nicht spurlos am Arbeitsmarkt vorbeigehen werde: „Ich gehe davon aus, dass wir in Österreich in der Herbstlohnrunde eine 6 vor dem Komma sehen werden.“ Das dürfte im nächsten Jahr dann zu Reallohnsteigerungen führen.