Seit Kriegsausbruch ist ein Jahr vergangen. Wie haben Sie das Jahr erlebt?
Andrii Stepanenko: Ich habe in zwei Welten gelebt, die stark auseinander gingen. Die eine ist die Welt der Leiden der Ukrainer, die andere Welt ist die des normalen Lebens hier in Wien. Die Kluft zwischen diesen Welten habe ich das ganze Jahr versucht mit aktivem Engagement zu überwinden, um meine Persönlichkeit aufrechtzuerhalten und nützlich für die Leute in der Ukraine – vor allem unsere Mitarbeiter – und unsere ganze Organisation zu bleiben. Meine überlebenden Freunde und Bekannte aus Vororten von Kiew haben mir vom Alltag erzählt, von der Gewalt, die fortschreitet, vom Gefühl der Unsicherheit und permanenter Hilflosigkeit. In den ersten Tagen galt es als sinnvoll, die Hauptstadt so schnell wie möglich zu verlassen, um sich nicht den potenziellen Bombenanschlägen und Straßenkämpfen mit den russischen Spezialeinheiten auszusetzen. Das erwies sich aber sehr bald als falsche Entscheidung, da die vorrückenden russischen Truppen blitzschnell die Vororte von Kiew erreichten und umstellten.
Wie geht es den Mitarbeitern in der Ukraine?
Stepanenko: Es gibt zahlreiche sehr bewegende Geschichten von unseren Kollegen aus der Ukraine. Ich möchte zwei Beispiele nennen, die stellvertretend für Tapferkeit und Professionalität stehen. Ein IT-Spezialist aus unserer Charkiwer Filiale wohnte über zwei Monate mit seiner Familie in der U-Bahn-Station. Er arbeitete dort weiter für uns und half, das IT-System der Bank aufrechtzuhalten. Seine Kinder sahen zwei Monate das Tageslicht nicht. Oder unsere Kollegin aus der Bankfiliale in Isjum in der Region Charkiw. Sie ging am 24. Februar 2022 zur Kontrolle zum Arzt. Sie war im neunten Monat schwanger. Am nächsten Tag bombardierten die russischen Flugzeuge Isjum. In dieser Nacht setzten die Wehen ein. Zum Glück konnte ihr Mann sie am frühen Morgen ins Spital fahren, wo ihr Baby zur Welt kam. Sie musste sechs Tage im Spital bleiben. Aufgrund der Angriffe musste sie mit ihrem Neugeborenen in den Keller flüchten. Es gab weder Heizung noch Licht. Sie floh zum Haus ihrer Nachbarin, wo es einen Holzofen gab. Zufällig schaffte sie es, die Stadt mit dem Zug zu verlassen, als sie in Lwiw eintraf, war das Baby 10 Tage alt.
Wie ist die Lage für die Mitarbeiter jetzt?
Stepanenko: Das hängt in erster Linie davon ab, in welcher Gegend sie arbeiten und wohnen. Dort, wo es die Sicherheitslage erlaubt, arbeiten unsere mehr als 6.300 Kollegen sehr engagiert und helfen damit nicht nur den Bankkunden, sondern leisten auch einen Beitrag zur Erhaltung der Stabilität des Bankensystems. 150 Mitarbeiter wurden zum Militär eingezogen, die Bank zahlt ihnen aber weiterhin ihr Gehalt. Bis heute haben wir vier Todesfälle und einen Vermissten zu beklagen.
Sie sitzen im Aufsichtsrat der Raiffeisenbank Ukraine – wie geht es der Bank?
Stepanenko: Die Raiffeisen Bank ist die größte ausländische Bank in der Ukraine und Marktführer mit einem Anteil von über 7 Prozent. Sie deckt als Universalbank alle Kundensegmente ab. Trotz des Krieges unterstützt die Bank Kunden, Mitarbeiter und die Wirtschaft – und das auf erstaunlich hohem Niveau angesichts des immer wiederkehrenden Terrors durch Raketen und Drohnen. Manche Filialen mussten aufgrund der Kämpfe geschlossen werden, aber das Serviceniveau konnte trotz der unglaublich schwierigen Situation de facto gehalten werden. 2,8 Millionen Kunden erhalten gewohnt zuverlässige Bankdienstleistungen entweder online oder in 315 Filialen in 266 Städten des Landes. Seit Jahresbeginn verzeichnete die Raiffeisen Bank einen Liquiditätszuwachs von einem Fünftel – einen schöneren und deutlicheren Beweis für die Zufriedenheit und vor allem das Vertrauen unserer Kunden gibt es nicht.
„Wir arbeiten sehr intensiv an einer Lösung für das Russlandgeschäft.“
Andrii Stepanenko
Die RBI wird für ihr Russlandgeschäft öffentlich stark kritisiert. Verstehen Sie die Kritik?
Stepanenkov: Persönlich kann ich die Kritik verstehen. Der Krieg war für uns alle ein Schock. Niemanden in unserer Gruppe lässt der Krieg unberührt. Wir arbeiten sehr intensiv an einer Lösung für das Russlandgeschäft. Ein Ausstieg aus Russland ist für westliche Unternehmen aber sehr komplex. Die Rahmenbedingungen ändern sich ständig und die russische Regierung setzt sehr restriktive Maßnahmen, um einen Ausstieg zu erschweren. Laut einer aktuellen Studie der Universität St. Gallen hat daher erst ein kleiner Teil der westlichen Unternehmen Russland verlassen. Für uns als Bank ist ein Rückzug aufgrund der Regulatorik und der Langfristigkeit des Bankgeschäfts noch komplizierter als für andere Unternehmen. Bislang hat erst eine große westliche Bank den Ausstieg geschafft. Sie konnte ihre russische Tochterbank an den vorherigen Eigentümer, einen Oligarchen, zurückgeben. In den vergangenen elf Monaten haben wir im RBI-Vorstand die Bewertung aller strategischen Optionen für die Zukunft der Raiffeisenbank in Russland sehr intensiv vorangetrieben, bis hin zu einem sorgfältig geführten Ausstieg. Wie Sie wissen, haben wir seit Kriegsbeginn unser Kreditgeschäft in Russland weitgehend eingestellt. Das Kreditvolumen in Russland – ausgedrückt in der lokalen Währung – haben wir im vergangenen Geschäftsjahr um rund 30 Prozent zurückgefahren.
Wie hat der Krieg das Retailgeschäft in CEE generell beeinflusst?
Stepanenko: Der Krieg ist nicht der alleinige Einflussfaktor. Dazu kommen Covid, der Inflationsanstieg, die Zeit, in der wir gerade leben, die manche als Multikrise wahrnehmen. Das alles beeinflusst natürlich auch unser Retailgeschäft. Ich glaube nicht, dass die Folgen in Zentral- und Osteuropa – abgesehen von der Ukraine – andere sind als im Rest Europas. Da wie dort ist der persönliche Gang in die Filiale rückläufig. Die Kommunikation zwischen Kunde und Berater findet vermehrt auf anderen Kanälen statt. Eines unserer Projekte ist daher eine neue Kollaborationsplattform, wo wir mit unseren Kunden je nach Wunsch über Chats, Nachrichten oder Live-Meetings interagieren können. Die digitale Signierung von Verträgen und Dokumenten gehört da natürlich auch dazu.
Welche Strategie verfolgt die RBI im Retail-Bereich?
Stepanenko: Wir arbeiten weiterhin mit Hochdruck daran, unsere Vision „We build a digital bank with human touch“ in die Realität umzusetzen. Sinngemäß bedeutet das, dass wir uns den digitalen Gewohnheiten unserer Kunden anpassen, aber gleichzeitig – im Gegensatz zu den rein digital auftretenden Neobanken – unseren Neu- und vor allem Bestandskunden das Gefühl vermitteln wollen, für sie auch persönlich da zu sein.
Wie läuft es mit der neuen Raiffeisen Digital Bank?
Stepanenko: Die Raiffeisen Digital Bank ist in Polen seit etwas mehr als einem Jahr tätig. In dieser kurzen Zeit ist es dem Team gelungen, ein sehr ehrgeiziges Programm zu erfüllen. Es ging darum, erste Ergebnisse zu erzielen und gleichzeitig die komplexen Grundlagen und Infrastrukturen für eine von der EZB regulierte, vollwertige Universalbank zu schaffen. All das wurde trotz der vielen Schwierigkeiten des derzeitigen geopolitischen Umfelds erreicht. Ich bin sehr zufrieden damit, wo wir stehen, und erwarte, dass die Raiffeisen Digital Bank eines der wichtigsten Innovationsinstrumente des RBI-Konzerns sein wird. Sie wird unsere Strategie unterstützen und uns zukunftssicher machen.
Was sind die nächsten Schritte?
Stepanenko: Wir arbeiten laufend an der Weiterentwicklung unserer Produkte und Dienstleistungen. Dabei setzen wir weiterhin den Kunden in den Mittelpunkt aller Betrachtungen. Produktentwicklung findet also nicht mehr im klassischen Ansatz statt. Die sogenannte Customer Experience ist für uns letztendlich maßgebend für den Erfolg. Der Kunde mit seinen Erfahrungen und Vorstellungen wird von Anfang in den schrittweisen Entwicklungsprozess eingebunden, um ein letztlich erfolgreiches Bankprodukt auf den Markt zu bringen.