Wie haben Sie persönlich das vergangene Jahr 2022 erlebt?
Erwin Hameseder: 2022 hat sehr vielversprechend begonnen. Die Pandemie schien überwunden und wir alle sind durchaus mit positiver Energie und Optimismus ins Jahr gestartet. Das hat sich mit dem 24. Februar und dem russischen Überfall auf die Ukraine radikal gedreht. Wir mussten von einem Tag auf den anderen unsere Planungen verwerfen und das Jahr 2022 völlig neu denken.
Dieser Krieg bedeutet eine unglaubliche humanitäre Katastrophe und er hat massive wirtschaftliche Folgen für Europa, ja ehrlicherweise für die gesamte Welt. Zum einen ist da der Rückgang der Wirtschafts- und Agrarleistung in der Ukraine selbst, zum anderen spüren wir alle auch die Auswirkungen der Sanktionen, die seitens der EU in Kraft gesetzt wurden. Das Ganze hat auch enorme Folgen für die Sicherheitspolitik – allesamt Auswirkungen, die uns auch 2023 massiv beschäftigen werden.
Daher zusammengefasst: Das Jahr 2022 hat für Raiffeisen, aber auch für mich persönlich, höchste Arbeitsintensität bedeutet. Positiv ist, dass gerade auch bei Raiffeisen das Gemeinsame in den Vordergrund gerückt ist. Das sehe ich sehr positiv. Man spürt ein Zusammenrücken, weil es um sehr ernste Herausforderungen geht. Allen ist bewusst, dass wir in dieser Situation nur gemeinsam weiterkommen. Was ich erlebe, ist höchste Motivation auf allen Managementebenen, aber auch bei den Eigentümervertretern. Die enge Zusammenarbeit und das Vertrauen zwischen Management und Eigentümern zeichnet die Raiffeisenfamilie aus und ist die Voraussetzung für gute Ergebnisse.
Welches Wort fällt Ihnen spontan ein, wenn Sie an das abgelaufene Jahr denken?
Hameseder: Historische Zeitenwende, und zwar in zweierlei Hinsicht: Geostrategisch, weil wir uns auf ein neues Europa einstellen müssen, ohne dass bereits klar ist, wie es aussehen wird. Und wirtschaftspolitisch wird sich zeigen, ob denn die Globalisierung auch in Zukunft der Weisheit letzter Schluss ist. Für Raiffeisen bedeutet das: Wir müssen unsere Basis weiter stärken.
Was hat Sie an der Entwicklung seit Kriegsbeginn am 24.2.22 am meisten überrascht?
Hameseder: Ich nehme das Positive vorweg: Raiffeisen ist bis dato sehr gut durch diese komplexe Krise gekommen. Das ist ein Ergebnis, das bei Ausbruch des Krieges nicht absehbar war. Was mich auch überrascht hat, war die Loyalität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der RBI in Russland und der Ukraine bzw. die Solidarität, die sich bei Raiffeisen gezeigt hat, wenn es um rasche und unbürokratische Hilfe ging, zum Beispiel für die Menschen in der Ukraine oder für Geflüchtete.
Auch die Solidarität in der EU war für mich bemerkenswert, wenngleich diese fallweise von einigen Staaten auf die Probe gestellt wird. Und als letzte Überraschung möchte ich anführen, dass wir gesehen haben, wie rasch Sanktionen eine positive Wirtschaftsdynamik in eine rezessive Entwicklung drehen können. Europa muss hier aufpassen: Der Sanktionsmechanismus darf der eigenen Wirtschaft nicht mehr schaden als demjenigen, dem die Sanktionen gelten.
„Die Nähe zum Kunden ist das wirkliche Asset, das wir haben.“
Banken und Lagerhäuser sind wesentliche volkswirtschaftliche Stabilitätsfaktoren – das hat sich in der Pandemie gezeigt und auch jetzt in der Energiekrise bzw. in Zeiten massiver Teuerung. Wie hat Raiffeisen wirtschaftlich diese schwierige Zeit gemeistert?
Hameseder: Ich bin froh, dass wir im Sektor in dieser sehr ernsten Zeit noch näher zueinander gerückt sind, und zwar auch spartenübergreifend. Darüber hinaus haben wir sehr aufmerksam analysiert, was sich in der Wirtschaft tut und auch auf der geopolitischen Ebene. Von Beginn an haben wir die Entwicklungen in Russland und in der Ukraine mit großer Sorge beobachtet, insbesondere in Bezug auf die RBI, und haben flankierend verschiedenste Maßnahmen gesetzt. Es hat sich herausgestellt, dass sich unsere doch sehr soliden Geschäftsmodelle auch als krisenfest erwiesen haben.
Die Nähe zum Kunden ist das wirkliche Asset, das wir haben. Das gilt für den Heimmarkt Österreich, aber auch für alle Länder, in denen Raiffeisen-Unternehmungen tätig sind. Da gibt es ein sehr breites Vertrauensverhältnis. Und wir haben rechtzeitig in Innovationen und in Digitalisierung investiert. Das zusammen ergibt ein Bild, das uns zeigt, dass wir insgesamt gut aufgestellt sind.
Wie sieht der wirtschaftliche Ausblick für die Raiffeisen-Organisation für 2023 aus?
Hameseder: Wir haben uns mit den wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten auseinanderzusetzen, die wir kaum beeinflussen können. Dabei geht es um eine hohe Inflationsrate, die vor kurzem noch bei 11 Prozent gelegen ist und jetzt wohl etwas zurückgeht. Aber Tatsache ist, diese Inflation wird hoch bleiben. Wir haben mit großen Verwerfungen bei den Energiepreisen zu tun. Und gleichzeitig gibt es auch die große Sorge, ob die Versorgungssicherheit mit Energie insgesamt gewährleistet werden kann. Auch auf den Rohstoff- und Finanzmärkten beschäftigt uns die starke Volatilität. Dazu kommen Logistikprobleme und natürlich die Sanktionen, die laufend verschärft werden. Und zu guter Letzt haben wir im Vorjahr auch die längst erwartete und notwendige Zinswende gesehen – aus meiner Sicht jedoch deutlich zu spät.
Wenn man das zusammengefasst sieht, dann muss man von einer höchst komplexen Krise ausgehen, die noch andauern wird. Damit verbunden wird wohl eine gewisse Transformation und Anpassung unserer Geschäftsmodelle sein. Wir sind da, um Lösungen für unsere Kundinnen und Kunden anzubieten und sie durch eine so komplexe, herausfordernde Zeit zu begleiten. Sehr wichtig ist auch, dass es weiterhin eine gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gibt. Und wenn ich in das Jahr 2023 hinaussehe, dann sind die Gewitterwolken nicht ganz so dunkel, wie es noch im November oder Dezember ausgesehen hat. Trotzdem ist eines klar: Wir werden es, wenn überhaupt, mit einem Wirtschaftswachstum zu tun haben, das sehr moderat sein wird. Aber gemeinsam, und davon bin ich absolut überzeugt, wird es wieder gelingen, respektable Ergebnisse zu erzielen.
Vor allem im ländlichen Raum ist Raiffeisen mit seinem Engagement vor Ort „mehr als eine Bank“. Wie wichtig ist diese Rolle Raiffeisens?
Hameseder: In unserer DNA ist ganz klar verankert, dass Raiffeisen auf die Stärke und die Kraft der Regionen baut, gemeinsam mit den Menschen vor Ort. Wir sind in den einzelnen Regionen tief verwurzelt. Vom Neusiedler See bis zum Bodensee befinden sich unsere Raiffeisenbanken und Lagerhäuser genau dort, wo die Menschen sind und wo uns die örtliche Wirtschaft braucht. Als Genossenschaft haben wir immer klar als Ziel, die jeweilige Region zu fördern, insbesondere in kultureller, sozialer und natürlich auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Und die Kombination unseres Selbstverständnisses, einerseits persönlich vor Ort präsent zu sein, also mit unseren Kundinnen und Kunden im persönlichen Austausch zu sein, und auf der anderen Seite auch attraktive digitale Angebote und Services zu bieten, hebt uns vom Mitbewerb ab. Ich halte es für wichtig, dass das in Zukunft beibehalten wird.
Heißt das also auch, dass jetzt die Zeit für Genossenschaften gekommen ist und wenn ja, wie kann sich der ÖRV dabei einbringen?
Hameseder: Genossenschaften waren immer Problemlöser. Die Menschen vor Ort wissen am besten um ihre Probleme und auch Herausforderungen. Heute geht es weitgehend auch um Themen der Resilienz. Es geht um Versorgungssicherheit, es geht um Energieversorgung. Und daher die Überlegung: Was können wir tun, damit wir Teil der Lösung sind? Der ÖRV hat hier eine ganz wichtige Funktion als Vordenker, Initiator und Begleiter – wobei klar ist, dass die Umsetzung in den Regionen vor Ort stattfinden muss. Aber wie man die Themen angeht, wie man solche Gründungen vornimmt, mit all der Beratungskompetenz, die es bei uns im Haus gibt, damit werden wir auch in Zukunft ein breites Betätigungsfeld haben.
Welche Vorhaben sind für 2023 geplant?
Hameseder: Der ÖRV wird seinen Schwerpunkten treu bleiben, weil es um konsequentes Vorrantreiben wesentlicher Themen geht. Dabei wird Interessensvertretung auf europäischer und nationaler Ebene allerdings klar an Bedeutung gewinnen. Die Wirtschaft ist ja mit einer Lawine an immer neuer Regularien konfroniert: Das Thema Basel IV geht in die Endphase; bei der KIM-Verordnung wurde bereits etwas bewegt, aber zu wenig, um eine relevante Entlastung für Kunden herbeizuführen; es wird neue Vorgaben im Zuge des Green Deal geben; Taxonomie als weiteres Schlagwort, oder Nachhaltigkeitsberichterstattung, Lieferketten-Gesetz usw. Es gibt eine Vielzahl von Themen, die auf uns zukommen und nicht nur für die Bankengruppe wichtig sind, sondern massive Auswirkungen auf alle Unternehmungen, die Mitglieder beim ÖRV sind, haben. In letzter Konsequenz geht es darum, als Interessensvertretung und durch Beratung den besten und effizientesten Weg aufzuzeigen, wie man diese Regularien gut schafft und auf der anderen Seite nicht auf die Wirtschaftlichkeit vergisst. Denn europäische, insbesondere österreichische Unternehmungen stehen im Wettbewerb mit globalen Konkurrenten. Und so wird die konstruktiv-kritische Auseinandersetzung mit neuen Regelwerken sicher ein zentrales Thema für den ÖRV sein.
Ein weiteres – mir persönlich sehr wichtiges – Thema ist die Bildung. Unser Raiffeisen Campus ist eine exzellente Einrichtung. Aus- und Weiterbildung ist die Basis, damit das Vertrauen unserer Kunden weiterhin wächst. In Zukunft geht es mir verstärkt um die Ausbildung für die erste und zweite Führungsebene in der Bankengruppe, aber auch verstärkt im Warenbereich. Ich bin froh, dass die Lagerhaus-Organisation zunehmend auf unser Bildungsangebot zugreift. Auch die Aus- und Weiterbildung unserer Funktionärinnen und Funktionäre ist wichtig. Höchste Qualifikation ist dabei gefragt.
Qualität ist auch das Stichwort für den Revisionsverband: Hier werden wir vor allem bei der Nachhaltigkeitsberichterstattung unsere Prüfungs- und Beratungskompetenz einbringen. Prüfung auf höchstem Niveau ist unabdingbar.
Und schließlich das Stichwort Kommunikation. Mit der Raiffeisenzeitung als Informations-Drehscheibe geht es darum, die wesentlichen Themen aufzuzeigen, mit Hintergründen zu beleuchten und für unsere Mitglieder verständlich zu machen. Auf der anderen Seite werden wir aber auch gefordert sein, noch schneller Informationen zu liefern. Die digitalen Möglichkeiten dazu haben wir, um rasch unsere Mitglieder zu erreichen, beispielsweise über einen eigenen Newsletter.
Das sind in den fünf Kernbereichen des ÖRV kurz umrissen unsere Vorhaben für 2023. Unsere Mitglieder erwarten von uns einen Mehrwert. Und mit diesen Kernbereichen können wir diesen Mehrwert gut abdecken.
„Die Jugend ist bereit mitzuarbeiten, wir müssen sie nur abholen.“
Ihnen war und ist Diversität immer schon ein Anliegen – nicht nur in puncto Frauen, sondern auch in Bezug auf die Jugend. Hat der Funktionärinnen-Beirat hier zu einem Umdenken im Sektor beigetragen?
Hameseder: Ja, manche nennen es Diversität. Wir können es einfach auch Vielfalt nennen. Raiffeisen soll in seinen Strukturen die gesellschaftliche Realität in den Genossenschaftsorganen widerspiegeln. Die Einrichtung des Beirates war mit Sicherheit ein wichtiger und richtiger Schritt, weil dadurch mehr Bewusstseinsbildung in den Eigentümerorganen eingetreten ist und insbesondere auf der operativen Ebene hier gute Schritte gesetzt wurden. Es ist doch ein gewisser „moralischer Druck“ entstanden, und das ist wichtig, denn schließlich können wir ja nichts anordnen. Wir haben beim Anteil der Funktionärinnen auch schon messbar gute Fortschritte gemacht, brauchen aber trotzdem noch mehr positive Dynamik. Meine Vision wäre es, bis 2030 in eine Ausgewogenheit bei Männern und Frauen in den Gremien von 50:50 zu kommen.
Die nächste Generation wird über die ÖRV-Initiative „Raiffeisen next“ angesprochen. Bei der Gründung von Schülergenossenschaften zeigen sich auch schon erste Erfolge. Welche weiteren Schritte sind hier geplant?
Hameseder: Auch hier geht es darum, dass es in unseren Organen eine gesunde Mischung gibt zwischen Erfahrung und der jungen Generation. Und diese Mischung führt dann zu guten Zukunftsentscheidungen. Ich sehe das als evolutionäre Weiterentwicklung. Auch hier sind wir vom ÖRV aufgerufen, Wege aufzuzeigen und Unterstützung anzubieten. Das Thema ist wichtiger denn je.
Als wichtige Maßnahme erscheint mir, dass wir uns überlegen müssen, wie wir die Jugend erreichen, insbesondere auch der Zugang zu den Schulen. Je früher wir die Jugend abholen und mit der Raiffeisenidee „infizieren“, umso leichter wird es gelingen, junge Menschen zu gewinnen, um in Organen mitzuwirken und in ihrer Region mitzugestalten. Die Jugend ist bereit mitzuarbeiten, wir müssen sie nur abholen. Die Raiffeisenzeitung ist dabei ein wichtiges Medium, vor allem über ihre digitalen Kanäle.
In Ihrem Antrittsinterview haben Sie auch das Thema Nachhaltigkeit als einen Ihrer Schwerpunkte genannt. Zeichnen sich dabei schon konkrete Projekte ab?
Hameseder: Nachhaltigkeit ist oft ein Thema gewesen, das die PR-Abteilungen beschäftigt hat. Das hat sich massiv weiterentwickelt. Denn klar ist, dass ESG-Themen künftig in die Unternehmensstrategie einzubinden sind. Und zwar nicht nur bei Banken, sondern bei allen Mitgliedern des ÖRV. Das erfordert eine Weiterentwicklung der einzelnen Geschäftsmodelle. Dabei muss man einerseits die Risiken sehen, die damit verbunden sind. Aber auf der anderen Seite ergeben sich für Raiffeisen-Unternehmungen auch große Chancen. Die Gründung von sogenannten Erneuerbaren Energiegenossenschaften ist nur ein positives Beispiel und zugleich eine perfekte Basis von Kooperation zwischen Gemeinden und Bürgern für den raschen Ausbau erneuerbarer Energieträger. Auch hier geht es in letzter Konsequenz um die Weiterentwicklung der staatlichen Resilienz, bei der wir als Raiffeisen einen wesentlichen Beitrag leisten können. Natürlich gibt es viele andere Themen, die sich noch entwickeln werden und bei denen der ÖRV eine Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung, aber insbesondere bei unseren Mitgliedern vorantreiben kann.
Als Generalanwalt sind Sie höchster Repräsentant der Raiffeisen-Organisation. Wie wichtig ist dabei Abstimmung und Austausch mit politischen Entscheidungsträgern?
Hameseder: Ich habe ja bereits die Interessensvertretung angesprochen. Da ist der Austausch mitpolitischenEntscheidungsträgern unerlässlich und unabdingbar für mich. Aber dieser Austausch geht über die Eigeninteressenvertretung hinaus. Denn die Kraft von Raiffeisen liegt im Gemeinsamen. Wir haben über zwei Millionen Mitglieder und sind damit ein wichtiger und gestaltender Teil unserer Gesellschaft. Und natürlich suchen wir einen ganz offenen Dialog und bringen uns ein – für die Regionen, für das Land. Wenn es etwa um das Thema Versorgungssicherheit geht, aber auch um die Weiterentwicklung der Regionen in kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht, um den Ausbau von Infrastruktur. Raiffeisen leistet hier schon einen wesentlichen gesellschaftlichen Mehrwert. Und Raiffeisen wird auch weiterhin seinen Beitrag leisten – darauf können sich die Menschen in unserem Land verlassen. Das weiß auch die Politik.