Die Sanktionen gegen Russland und dessen Machtapparat wurden wegen der Invasion in die Ukraine mehrmals nachgeschärft. Wo stehen wir derzeit (Anm.: Stand 1.3.2022)?
Gunter Deuber: Der französische Finanzminister spricht seit Dienstag offen von einem Wirtschaftskrieg. Das könnte dazu führen, dass Russland nicht mehr den Euro verwenden darf. Dann müssten wir uns damit anfreunden, dass sich Europa komplett von Russland entkoppelt, auch auf der Energieseite und mit allen Kosten, die das nach sich zieht. Das wird für die europäische Wirtschaft zwar schmerzhaft, aber verdaubar werden.
Was war aus Sicht Moskaus die überraschendste Maßnahme?
Deuber: Sicherlich die raschen Sanktionen gegen die russische Zentralbank. Was wir übers Wochenende gesehen haben, ist eine Zeitenwende in Europa. Im Nachhinein betrachtet war es von der russischen Führung grob fahrlässig, einen Großteil der Devisenreserven in Wertpapieren etwa in deutschen und französischen Staatsanleihen zu halten und diese noch physisch im Westen zu belassen. Dazu kommen auch große Guthaben-Positionen bei westlichen Finanzinstituten wie der Deutschen Bundesbank oder der französischen Notenbank, auf die Russland nun keinen Zugriff mehr hat.
Was war die russische Finanz-Strategie für diesen Krieg?
Deuber: Russland hat sich akribisch auf die Invasion in die Ukraine vorbereitet und dazu auch Devisenreserven von über 600 Mrd. Euro angehäuft. Unter der als „Festung Russland“ geplanten Strategie sollten diese Finanzmittel helfen, westliche Sanktionen auszusitzen. Deswegen war es für die Unterstützer der Ukraine zwingend notwendig, diese Festung finanziell „abzubauen“. Russland hat damit den Zugriff auf 50 bis 70 Prozent seiner Devisenreserven verloren. Das zeigt, dass Putin sowohl die Widerstandskraft der Ukraine als auch die Handlungsfähigkeit der EU unterschätzt hat und wie stark er im alten Denken verhaftet ist.
Wie groß war der Beitrag der Ukraine dafür
Deuber: Die Ukraine hat ein wesentliches Zeitfenster dafür geschaffen. Wenn die Russen in zwei Tagen in Kiew gewesen wären, bin ich mir nicht sicher, ob diese Sanktionen politisch so umsetzbar gewesen wäre. Ohne diese Widerstandskraft vor Ort wären wir nicht dort, wo wir jetzt sind – mit allen Vor- und Nachteilen.
Worauf muss man sich nun in Österreich einstellen, wenn die wirtschaftliche Eskalation weitergeht?
Deuber: Für heuer ist es möglich, dass wir noch mit einem Wirtschaftswachstum herauskommen, denn das erste, sehr starke Quartal ist großteils gelaufen. Außerdem geht die europäische Wirtschaft viel robuster in diese Krise als zum Beispiel in die Pandemie. Wir sollten uns aber nicht so stark auf das Jahr 2022 fokussieren, denn die wirtschaftliche Entkoppelung von Russland könnte sich über einen längeren Zeitraum hinziehen.
Welche Bereiche wären für diesen Fall besonders betroffen?
Deuber: Einbußen dürfte es vor allem in der Industrie geben, weil diese über das Energiethema hinaus etwa auch bei anderen Rohstoffen wie Metallen von Russland abhängig ist. Unter Umständen müssten im Herbst und über den Winter Teile der europäischen Industrieproduktion heruntergefahren werden, um die entsprechenden Energieressourcen zu haben. Vielleicht haben wir dann 2023 ein schwarze Null im Gesamtjahr stehen. Wenn es zu dieser Komplett-Entkoppelung von Russland kommt, dann steht uns ziemlich wahrscheinlich eine längere Periode der Wachstumsschwäche bevor als bei der Corona-Rezession. Andererseits haben wir die höheren Ersparnisse, den Dienstleistungssektor und gewisse fiskalpolitische Maßnahmen, die weiter laufen werden. Vieles, das Russland anbietet, kann global substituiert werden, natürlich zu höheren Preisen.
Die Inflation ist ja schon im Steigen …
Deuber: Auf der Inflationsseite werden wir den Krieg stark spüren. Wir haben unsere Inflationsprognose für Österreich für heuer auf 5,5 Prozent nach oben gesetzt und in der Eurozone auf über 5 Prozent. Die Preiseffekte werden auch die Lieferketten wieder enger machen. In diesem Jahr wird uns aber vor allem die Inflation massiv davonlaufen – mit dem Risiko, dass wir eher ein schwaches nächstes Jahr oder Winterhalbjahr im Wirtschaftsbereich bekommen.
Kann die EZB auf der Inflationsseite etwas machen?
Deuber: Bei der Inflation kann die EZB nichts mehr machen, außer dass sie zumindest aus dem Negativzinsumfeld aussteigt. Da man schon im Vorjahr das Inflationsziel verfehlt hat und und heuer bei einer Inflation von über 5 Prozent zum Liegen kommt, kann die EZB nicht komplett alles aufschieben. Hier erwarten wir uns, dass die Eurozone zumindest aus der Nullzinsenpolitik rauskommt, um ein Signal zu setzen, dass man auf der Inflationsseite noch etwas macht. Das eröffnet dann in weiterer Folge die Debatte, wie viele Zinsschritte noch notwendig sind und was für 2023 gemacht werden muss. Eine Möglichkeit ist, dass die EZB eher über Liquiditätsmaßnahmen, die sie eigentlich zurückfahren wollte, agiert.
Steht wirtschaftlich noch etwas im Raum?
Deuber: Wir müssen uns dann wahrscheinlich auch auf umfassende Maßnahmen der wirtschaftspolitischen Koordination einstellen. Wir dürften nicht darum herumkommen, auch Preisobergrenzen zu setzen. Das scheint mir in dieser eskalierenden Entwicklung ein wahrscheinliches Szenario.
Die Verwerfungen auf den Kapitalmärkten sind vielfältig, was steht ihnen bevor?
Deuber: Dass es auf den Kapitalmärkten 2022 enger wird, war auch schon vor diesem Angriffskrieg unsere Annahme. Mit diesem Inflationsbild wird es für Unternehmen vor allem auf der Margenseite herausfordernder, vor allem für die europäischen Börsen. Aber man darf nicht vergessen, dass die Abhängigkeiten der Weltwirtschaft von Russland relativ gering sind. Bei solchen geopolitischen Verwälzungen können die Kapitalmärkte schon einmal 12 oder 18 Monate brauchen, um auf das Vorkrisenniveau zurückzukehren.
Steht Europa eine Finanzkrise bevor?
Deuber: Man sieht die diversen Ankündigungen etwa von BP oder dem norwegischen Staatsfonds, sich von russischen Assets zu trennen. Dass dies nun nicht werthaltig erfolgen kann, liegt auf der Hand. Dennoch erwarten wir aber keine Finanzkrise. Dazu ist Russland auf den Finanzmärkten zu klein. Für die Aktienmärkte, insbesondere in Europa, dürfte es in den kommenden Monaten darum gehen, eine klare Richtung zu finden.
„Ohne Regierungswechsel in Russland wird das Verhältnis sehr, sehr schwierig bleiben.“
Gunter Deuber
Ist der russische Markt für die Europäer á la longue verloren?
Deuber: Ohne eine Veränderung in der russischen Staatsspitze dürfte nichts mehr gehen. Neben den staatlichen Sanktionen trennen sich auch viele Unternehmen aktiv von russischen Beteiligungen. Und auch der Druck aus der Bevölkerung etwa in der Schweiz ist groß. Das hat es in der modernen Wirtschaftsgeschichte so noch nicht gegeben. Selbst Singapur trägt zum ersten Mal seit den 1960er-Jahren westliche Sanktionen mit.
Wie sehr kann sich Putin auf China verlassen?
Deuber: Die Chinesen werden den Russen sicher einige Rohstoffe abkaufen und leichte Abfederung bieten, aber China ist international integriert und auf die Globalisierung angewiesen. Außerdem will China ja nicht nur militärtechnisch, sondern wirtschaftlich eine Weltmacht werden. Das zu riskieren, dafür ist ihnen Russland zu unwichtig. Die großen chinesischen Industrie- und Technologiekonzerne werden sich bei einer kompletten Isolation Russlands nicht leisten können, die Sanktionen im großen Stil zu umgehen.
Wie kann eine Zeit nach dem Krieg aussehen?
Deuber: Ein Erholungsprozess hängt sehr stark davon ab, wie lange die Aggression dauern wird und wie die Ukraine das durchsteht. Sollte die Ukraine okkupiert werden, werden wir riesige Flüchtlingsströme sehen. Überlebt die Ukraine als Staat diese Aggression, dürfte sie richtigerweise mit sehr viel Aufbauhilfe rechnen. Das kann dann in Richtung eines Marshall-Plans gehen. Aber ohne Regierungswechsel in Russland, egal wie der Krieg ausgeht, wird das Verhältnis zu Russland sehr, sehr schwierig bleiben.
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