Trotz anhaltender Krisen wie den zunehmenden geopolitischen Konflikten, einer schwächelnden Industrie und den massiven Zolldrohungen von US-Präsident Donald Trump entwickelte sich der Kapitalmarkt zwar volatil, aber insgesamt robust. Zuletzt überraschten vor allem die europäischen Werte, die den US-Aktienmarkt outperformten. Der DAX übersprang vorige Woche erstmals die Marke von 22.000 Punkten und auch in anderen Teilen Europas legten die Börsen eine starke Entwicklung hin. In den USA stiegen die Aktienwerte etwas weniger stark und selbst China mischt mit einem verspäteten Boom bei Künstlicher Intelligenz (KI) im Aufwärtstrend kräftig mit.
„Dass sich Europa an den Börsen besser entwickelt als die USA, ist überraschend, dürfte aber nur kurzfristig so bleiben. Das hat auch mit der niedrigen Erwartungshaltung an Europa zu tun“, erklärt Gunter Deuber, Raiffeisen-Chefanalyst und Leiter von Raiffeisen Research.
Deutliche Anzeichen
Solange die US-Wirtschaft läuft und der US-Konsument einigermaßen bei Laune bleibt, könnte die positive Entwicklung an den Kapitalmärkten noch einige Zeit anhalten. „Es deutet aber viel auf ein klassisches ,Boom-Bust’-Szenario hin“, mahnt der Finanzexperte zu einer Portion Vorsicht. Nach kräftigen Anstiegen an den Märkten könnte auch die US-Wirtschaft sogar in Richtung Überhitzung gehen, bevor es dann stärker nach unten geht.
„Die spannende Frage dabei ist: Wann beginnt der Markt, so etwas einzupreisen? Es kann im zweiten Halbjahr 2025 oder Anfang 2026 erfolgen“, so Deuber. Dass sich die US-Wirtschaft abschwächt und mittelfristig inflationäre Effekte aufgrund der Politik des US-Präsidenten aufkommen, könnte die Aktienmärkte dann durchaus für einige Monate talwärts schicken. „Es muss kein Schockszenario sein, in dem die Aktienmärkte an einem Tag massiv an Wert verlieren. Aber eine solche Entwicklung sehen wir langsam auf uns zukommen“, sagt Deuber.
Die starke europäische Performance führt Deuber neben der geringen Erwartungshaltung auch teilweise auf ein gestiegenes Interesse von US-Investoren zurück, die Alternativen für die hoch bewerteten US-Werte suchen. Die Performance der europäischen Aktien laufe aber in einem gewissen Gleichklang mit jener in den USA. Daher warnt der Ökonom vor zu großem Optimismus: „Sobald die USA ins Stottern kommen, werden auch europäische Aktien verlieren. Eine eigenständige europäische Entwicklung sehen wir nicht.“ Darüber hinaus dürfe man nicht vergessen, dass die europäischen Konzerne im Schnitt nur 40 Prozent ihrer Gewinne in Europa erwirtschaften, der Rest wird in Amerika und Asien lukriert. Viele Unternehmen hätten sich auf ein schwierigeres Szenario vorbereitet und zum Beispiel in den USA investiert.
Chaotische Zollpolitik
Die Zollpolitik von US-Präsident Trump sei völlig unplanbar, sagt Deuber. Glaubten zuvor noch viele, dass die Ankündigungen nur heiße Luft wären, sorgte Trump zuletzt mit konkreten Plänen für Aufsehen. Auch wenn bereits einige der angekündigten Maßnahmen wieder zurückgenommen wurden, dürften andere aber planmäßig in Kraft treten. Trump kündigte neben einem universalen Tarif von 10 Prozent für Importe aus China auch Zölle auf Stahl und Aluminium in Höhe von 25 Prozent an.
„Die Reaktionen fielen bisher noch überschaubar aus. Das Ausmaß eines möglichen Handelskrieges wird sich aber erst im Laufe der nächsten Wochen zeigen“, ist Deuber überzeugt. Was die Finanzmärkte aus seiner Sicht derzeit allerdings noch etwas zu naiv sehen, ist der Euro-Dollar-Kurs. „Der Euro ist nach oben gegangen, auch weil man erwartet, dass der Krieg in der Ukraine zu Ende geht. Das führt zu zahlreichen Herausforderungen für Europa. Ob wir denen gewachsen sind, zum Beispiel die Ukraine eigenständig abzusichern, ist fraglich“, sagt Deuber.
Grundsätzlich sieht der Experte allerdings einen zu pessimistischen Blick einiger Akteure auf die Konjunktur, denn: „Global läuft die Weltwirtschaft nicht so schlecht, wie es bei uns die Nachrichtenlage nahelegt. Und man darf auch nicht unterschätzen, dass es auch in Europa entgegen der Entwicklung in Österreich und Deutschland relativ gut läuft. Für heuer wird in der Eurozone ein Wirtschaftswachstum von rund 1 Prozent erwartet.“ Und auch die US-Konjunktur ist nach wie vor auf einem guten Weg. Hier sieht Deuber auch das größte Risiko für die Kapitalmärkte, sollte sich die US-Wirtschaft abkühlen, weil „von der US-Wirtschaft letztendlich die Musik am Kapitalmarkt ausgeht“.
Expansiver Modus nicht in Sicht
Beim dominierenden Thema der letzten Jahre, der Inflation, wird es noch einige Anstrengungen brauchen. Im Vorjahr war sowohl die Dienstleistungs- als auch die Kerninflation in den USA und Europa nach wie vor hoch, während die Gesamtrate auf ein niedrigeres Niveau zurückging, weil es negative Beiträge seitens der Energiekosten gab und die klassische Güter- und Industrieinflation extrem niedrig war.
„Es reicht bereits aus, dass sich die negativen Beiträge normalisieren, damit die Disinflation holprig wird“, so Deuber. In den USA könnte die Inflation mittelfristig über 3 Prozent bleiben, in Europa dürfte sie auch aufgrund der Wirtschaftsschwäche um die 2 Prozent betragen. Damit dürfte die Europäische Zentralbank (EZB) weiterhin vorsichtig an der Zinsschraube nach unten drehen und die restriktive Geldpolitik in einen neutralen Bereich bringen. Einen Wechsel in einen expansiven Modus sehen wir aber nicht. Das dürfte keinen großen Impuls für die Finanzierung der Unternehmen bringen – vor allem nicht in Deutschland und Österreich. Beide Länder stecken seit zwei Jahren in einer Rezession. „Für uns ist die Geldpolitik eigentlich zu restriktiv, daher müssen wir mit anderen Impulsen für die Wirtschaft arbeiten“, sagt Deuber.
„KI ist oft nur ein Baustein“
Auch wenn die US-Entwicklung von den Tech-Unternehmen dominiert wird, sieht Deuber keine Gefahr einer zu einseitigen Positionierung etwa beim Boom rund um die Künstliche Intelligenz, die wie in der sogenannten „Dotcom-Blase“ zu massiven Verwerfungen an den Kapitalmärkten führen könnte. Zwar seien die Bewertungen der US-Tech-Konzerne relativ hoch. Allerdings erwarte man sich nun eine Verbreiterung des US-Zyklus. Dazu kommt, dass die Tech-Riesen funktionierende Geschäftsmodelle entwickelt haben.
„Es ist eine reale Produktion dahinter. Und für die ganz Großen ist KI oft ein neuer Baustein zu einem funktionierenden Geschäft. Microsoft zum Beispiel hat auch andere Standbeine, die auch sehr, sehr gut laufen“, erinnert Deuber. „Viele dieser Geschäftsmodelle sind schon fast antizyklisch defensiv, weil wir in einer hochdigitalisierten Welt leben und die KI ein neuer Treiber ist. In einer Rezession wird niemand sein Microsoft-Abo kündigen.“ Diese Lizenzmodelle bringen den Unternehmen aber permanent Umsätze, etwa durch die Vermietung von Cloud-Kapazitäten – und das wird nicht weggehen.
Eine Blase kann auch grün sein
Einen gewissen Pragmatismus sieht Deuber beim Thema Nachhaltigkeit (ESG) eingekehrt. So haben sich US-Großbanken und selbst die US-Notenbank Fed aus ESG-Netzwerken verabschiedet. Das bedeute aber nicht, dass diese Banken keine Finanzierungen in diesem Bereich vornehmen wollen. „Der Hype um das Thema ist vorbei, dennoch bleibt ESG relevant und man sollte nicht alle Ambitionen komplett aufgeben. Dass man es aber abseits der Ökonomie macht, macht natürlich auch keinen Sinn“, so Deuber.
Europa sollte trotzdem nach wie vor sein Ziel, eine solide führende Position zu entwickeln, weiterverfolgen. Allerdings sollte das Thema nicht über die Ökonomie gestellt, sondern als ein Aspekt der Ökonomie gesehen werden. Der Hype hatte in der Vergangenheit auch zu Implikationen am Kapitalmarkt geführt. „Wenn ich irgendwo künstlich die Nachfrage fördere, dann geht irgendwas auch durch die Decke. Eine Finanzmarktblase kann auch grün sein, wenn ich so viel künstliche Nachfrage erzeuge – und das ist teilweise passiert“, kritisiert Deuber. Es sei Teil des Kapitalmarktes und ein valides Segment, aber eben nicht das einzige. „Ich finde es gut, dass da Normalität und ein gesünderer Blick einkehrt ist“, sagt der Finanzexperte.
Gute Gewinne
Für ständig neue Datenimpulse sorgt derzeit auch die laufende Berichtssaison. Bisher konnten die meisten Unternehmen mit positiven Nachrichten überzeugen. Von den rund 50 Prozent der S&P-500-Unternehmen, die ihre Zahlen bereits veröffentlicht haben, konnten 77 Prozent die Gewinnerwartungen übertreffen. Damit liegt die aktuelle Unternehmensentwicklung über dem langjährigen Durchschnitt von 67 Prozent. Auch das aggregierte Gewinnwachstum auf Indexebene liegt derzeit bei 14,8 Prozent und somit über den Erwartungen von 7 Prozent.
In Europa hinkt die Berichtssaison traditionell hinterher. Zwar liegt das Ausmaß positiver Gewinnüberraschungen im Stoxx Europe 600 genau im langfristigen Durchschnitt. Das aggregierte Gewinnwachstum von 3,2 Prozent zeigt jedoch, dass der alte Kontinent nur schwer in Schwung kommt.