Der 1. Mai 2004 markiert ein bedeutendes Datum der europäischen Geschichte. Vor genau 20 Jahren wurde die EU-Osterweiterung gestartet – mit Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Slowenien, Polen und den baltischen Staaten Lettland, Estland und Litauen. „Teil der europäischen Staatengemeinschaft zu sein, bedeutet für die Länder zunehmende Stabilität und Rechtssicherheit, was wiederum ausländische Investoren anzieht und den Handel erleichtert“, fasst Valerie Brunner, Vorstandsmitglied der Raiffeisen Bank International, die wesentlichen Vorteile kurz zusammen.
Die Integration in den EU-Binnenmarkt brachte Zentraleuropa (Tschechien, Ungarn, Polen, Slowakei und Slowenien) einen kontinuierlichen Aufholprozess. RBI-Chefökonom Gunter Deuber konkretisiert: „Die aggregierte Wirtschaftskraft der fünf zentraleuropäischen Länder beträgt heute zirka 150 Prozent der Wirtschaftsleistung der Niederlande. Vor 20 Jahren hingegen lag diese Relation nur bei 80 Prozent.“ Die Raiffeisen-Research-Analysten erklären diese Entwicklung mit der kontinuierlichen Zunahme ausländischer Direktinvestitionen sowie der großen Handelsoffenheit der Region. „Der Außenhandel liegt in Zentraleuropa bei etwa 170 Prozent der Wirtschaftsleistung. Dies ist ähnlich hoch wie in einer traditionellen Handelsnation, etwa den Niederlanden, und deutlich über dem Österreichwert von etwa 125 Prozent. Das zeigt den hohen Grad der Wirtschaftsintegration sowie die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Region“, erklärt Deuber.
Wirtschaftliches Gewicht
Zentraleuropa (CE) hat in den vergangenen 20 Jahren stark an wirtschaftlicher Bedeutung innerhalb der EU gewonnen. Ausgehend von 4,9 Prozent BIP-Gewicht in der EU, liegt der Anteil nun bei 8,7 Prozent. „Das bedeutet permanent überproportionales Wachstum“, so Deuber. Im Vergleich zu einigen südeuropäischen Ländern wie Griechenland oder Italien ist der Wohlstand in Zentraleuropa nie nachhaltig gegenüber dem EU-Durchschnitt zurückgegangen. Es habe lediglich Phasen des Nichtaufholens wie etwa in Ungarn, Slowenien oder zuletzt in Tschechien gegeben.
„Aber gerade im Umfeld der aktuellen politischen Umwälzungen auf globaler Ebene gewinnt die Region Zentraleuropa wieder an Bedeutung. Viele westliche Firmen haben die Region wiederentdeckt. Denn aufgrund der geografischen Nähe ist Zentraleuropa ein attraktiver Standort, um die Sicherheit und Zuverlässigkeit bei Lieferketten zu erhöhen“, erklärt Brunner und beobachtet auch mehr Investoren aus Nicht-EU-Ländern in CE.
In den vergangenen 20 Jahren sei auch die wirtschaftliche Verflechtung der CE-Länder untereinander gestiegen. „Der Handel in der Region wird immer wichtiger“, berichtet Deuber. Die Exporte in die Region sind von 20 auf 26 Prozent gestiegen, während der Exportanteil Deutschlands von 30 auf 28 Prozent gesunken ist.
Starker Expansionsgeist
„Voraussetzung für diese massive wirtschaftliche Entwicklung ist eine funktionierende Finanzinfrastruktur und hier durften wir als RBI einen entscheidenden Beitrag leisten“, betont Brunner. Die Expansion von Raiffeisen nach Zentral- und Osteuropa seit stark von dem Follow-Your-Costumer-Prinzip dominiert gewesen. Die Begleitung der Kunden in die Nachbarländer Österreichs war der Start, dafür hat Raiffeisen bereits 1986, also noch Jahre vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, mit der Gründung der Tochterbank in Ungarn die Weichen gestellt. „Wir waren ein echter Pionier“, erinnert Brunner. Nach der Servicierung der Kunden im Auslandsgeschäft ging Raiffeisen in die Akquisition von lokalen Firmenkunden über und schließlich versorgte man auch Privatkunden mit modernen Bankprodukten. Dabei habe man nationale Unterschiede stets in die unternehmerische Perspektive aufgenommen.
Die hohe Relevanz der zentraleuropäischen Länder, insbesondere Ungarn, Slowakei und Tschechien, für die RBI lässt sich mit Zahlen untermauern: Die RBI zählt in diesen drei Ländern aktuell vier Millionen Kunden und mehr als ein Drittel des gesamten RBI-Kundenkreditvolumens entfällt auf diese Region. In der RBI-Gesamtgruppe hat sich das Volumen der ausgegebenen Kredite seit 2004 von 22 Mrd. auf rund 100 Mrd. gesteigert. Brunner ist dabei wichtig zu betonen: „Ohne den politischen Veränderungen, ohne der in Aussicht gestellten EU-Erweiterung und ohne den Expansionsgeist österreichischer Unternehmen wäre das Wachstum der RBI in diesen Märkten nicht möglich gewesen.“ Insgesamt seien österreichische Banken in Zentraleuropa gut positioniert und in ihrer Bedeutung sukzessive gestiegen: 25 Prozent der Forderungen westlicher Banken in CE-Ländern entfallen aktuell auf heimische Geldinstitute.
Die Entwicklung der Bankensektoren in Zentraleuropa ist generell weniger geradlinig und zeigt regional weniger eindeutig nach oben als die makroökonomische Konvergenz. In Märkten wie Ungarn oder Slowenien ist der Bankensektor in Relation zur Wirtschaftskraft in der letzten Dekade teilweise sogar geschrumpft, in Polen ist eine lange Stagnation erkennbar, so die Analyse von Raiffeisen Research. „Die Hypothekarkreditmärkte sind in diesen Ländern noch nicht in der Breite entwickelt, hier besteht noch viel Aufholbedarf“, analysiert Deuber.
Besondere lokale Geschäftschancen sieht die RBI in der Verknüpfung der wettbewerbsfähigen und industriestarken Region Zentraleuropa mit den westlichen EU-Märkten sowie mit wichtigen Wirtschaftspartnern global. Auch in der Begleitung von international orientierten lokalen Vorzeigeunternehmen, in den bereits existierenden tiefen Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen, im weiter stark wachsenden regional orientierten Außenhandel sowie im Immobilienkreditbereich erkennt man Potenzial.
Grüne Umgestaltung
Die CEE-Staaten würden heute noch immer sehr stark von der EU-Mitgliedschaft profitieren, vor allem von den erweiterten Fördermittel für Infrastrukturprojekte. Die Programme fokussieren auf Innovation, Forschung und Entwicklung und die grüne Transformation. „Das Thema ESG ist eine der größten, aber wichtigsten Herausforderungen für die Kunden in Tschechien, Ungarn und der Slowakei“, berichtet Brunner. Die grüne Umgestaltung der Wirtschaft werde durch europäische Regulatorik massiv vorangetrieben und wohl die nächsten Jahrzehnte bestimmen. Die RBI-Tochterbanken unterstützen ihre Kunden beim Zugang zu den EU-Fördergeldern. „Wir sind auch Vorreiter im Bereich Sustainable Finance in der Region, um den grünen Wandel zu unterstützen und einen braunen Vorhang zu vermeiden“, so Brunner.
Tschechien und Slowakei
Unter Berücksichtigung von Indikatoren des makroökonomischen Aufschließens sowie der Konvergenz im Bankensektor sehen die Raiffeisen-Research-Analysten Tschechien und die Slowakei aktuell als die erfolgreichsten zentraleuropäischen Länder der EU-Osterweiterung von 2004 an. Ableiten lässt sich dies aus stetigen Einkommenssteigerungen sowie der nachhaltigen Expansion der jeweiligen Bankenmärkte. Dabei verfolgten beide Länder sehr unterschiedliche wirtschafts- sowie geld- und währungspolitische Strategien zur Integration in den EU-Binnenmarkt. Dennoch gibt es in beiden Ländern einige Gemeinsamkeiten, wie etwa den bisherigen Fokus auf eine stabilitätsorientierte wirtschaftspolitische Ausrichtung sowie die Offenheit für einen hohen Grad der Ausländerbeteiligung am heimischen Bankenmarkt.
„In Tschechien und der Slowakei haben Auslandsbanken einen aggregierten Marktanteil von 85 bis 90 Prozent. Dies hat offensichtlich der erfolgreichen Konvergenz dieser Länder in den Bereichen Wirtschaft und Banken nicht im Wege gestanden“, sagt Deuber. In der Slowakei verortet der Chefökonom auch einen hohen Beitrag des Euro an der nachhaltigen Entwicklung des Wohnimmobilienmarkts. Die auf die Region fokussierten österreichischen Großbanken haben gemäß dem Raiffeisen-Chefökonomen in Tschechien einen Marktanteil von fast 25 Prozent, in der Slowakei von fast 40 Prozent.
Vorsichtige Erweiterung
Die vergangenen 20 Jahre haben gezeigt, wie schnell Wohlstand entstehen kann, wenn sich „politischer Wille und wirtschaftliche Umsetzungskraft vereinigen“, resümiert RBI-Vorständin Valerie Brunner. „Aber wirtschaftlicher Erfolg schützt nicht vor Euroskepsis“, erkennt Deuber. Das sieht auch Vladimír Vano, Chefökonom beim slowakischen Thinktank Globsec, so: „Es ist wichtig, auch über die nicht-finanziellen Themen zu sprechen.“ So gebe es durch einen EU-Beitritt eben nicht nur Reformgewinner, sondern auch Verlierer. Während viele, vor allem junge und gebildete Bürger zentraleuropäischer Länder bessere persönliche und berufliche Chancen haben, zählen Pensionisten und Beamte für Vano mehr zu den Verlierern. „Die soziale Inklusion ist unterschätzt worden, deshalb gibt es nun die Tendenz zu populistischen Parteien“, analysiert Vano.
Aus Sicht der Experten ist es deshalb notwendig, bei zukünftigen EU-Erweiterungen geopolitische und soziale Komponenten stärker mitzudenken. Geopolitische Implikationen der EU-Osterweiterung sowie deren Wirkung auf EU-Entscheidungsprozesse seien 2004 unterschätzt worden, so Deuber. Insofern stehen in diesen Themenkreisen Schärfungen auf EU-Ebene an, bevor die EU wieder erweiterungsfähig wird.