Perspektiven für Patient null

Ein neues Weißbuch über den Neusiedler See eröffnet die Diskussion über Chancen und Zukunft der Region.

Der Pegel des Neusiedler Sees erreicht durch die anhaltende Trockenheit einen historischen Tiefstand.
Der Pegel des Neusiedler Sees erreicht durch die anhaltende Trockenheit einen historischen Tiefstand. © Picturedesk.com/Weingartner-Foto

Das Jahr 2022 hat aufgezeigt, wie rasant der Klimawandel fortschreitet und ganze Regionen verändert. Die Trockenheit hat dazu geführt, dass der Zicksee im Burgenland komplett ausgetrocknet ist und auch der Neusiedler See hat gelitten. Selbst jetzt im Frühjahr sind die Pegelstände des Steppensees auf einem Tiefststand von 115,01 Meter über Adria, das ist um 21 Zentimeter niedriger als vor einem Jahr. Ornithologen haben bereits Kiebitze und Alpenschlammläufer weiterziehen sehen, weil ihr Brutraum nicht mehr intakt ist. Die Problemlage des 10.000 Quadratmeter großen Schutzgebiets sei so markant, dass man jetzt nicht mehr die Augen verschließen könne. „Es ist alternativlos, über Lösungen nachzudenken. Wir wollen Verantwortung übernehmen, um das Naturjuwel für die Zukunft zu wappnen“, erklärt Stefan Ottrubay, Direktionsrat der Esterhazy Privatstiftungen, bei der Präsentation des neuen Weißbuchs „Das Ende des Neusiedler Sees. Eine Region in der Klimakrise“ (Residenz Verlag). 

Wissenschaftlich fundiert und mit einer persönlichen Note erklärt das Weißbuch die Klima-Herausforderungen der Region Neusiedler See, in der sich viele Interessen überlagern: vom Tourismus über den Naturschutz bis zur Landwirtschaft und dem kulturellen Erbe. Im Buch kommen nicht nur Experten wie Hydrologen und Meteorologen zu Wort, sondern auch viele Menschen und Betriebe aus der Region. Wie sich die klimatischen Veränderungen auf die Winzer auswirken, berichtet etwa Josef Umathum: „Anfang der 80er-Jahre hat die Ernte in der ersten oder zweiten Oktoberwoche begonnen. Jetzt startet die Weinlese Ende August. Wir merken den Klimawandel schon lange.“ Die Trauben verändern dabei auch ihre Charakteristik, haben viel weniger Säure und sind anfälliger für Krankheiten. 

Insgesamt haben 50 Autoren mitgewirkt, die ökologische, ökonomische und soziale Aspekte beleuchten. „Die Zeit der einfachen Lösungen ist vorbei“, erklärt Johannes Ehrenfeldner, Direktor der Nationalparkgesellschaft Neusiedler See–Seewinkel. Durch die sensible Lage im pannonischen Klima sei die Region besonders früh betroffen. „Der Neusiedler See ist Patient null – mit Modellcharakter für den alpinen Raum“, ist Gunnar Landesgesell, redaktioneller Leiter der Publikation, überzeugt.

Verschiedene Maßnahmen

Bei den Ursachen für die Trockenheit kommt Landesgesell zu dem Schluss: „Es ist eine Mischung aus klimatischen Veränderungen und menschlichen Eingriffen.“ So hat man etwa nach der Austrocknung des Neusiedler Sees im Jahr 1865 den Boden nutzbar und das Moorgebiet trockenlegen wollen. Der Einser-Kanal wurde gebaut, über den 2014/15 der See noch entwässert wurde. Zudem werde dem Zufluss Wulka zu viel Wasser abgeschöpft, das müsse man ändern. Eine Idee ist auch eine gezielte Aufforstung, um die Verdunstung zu reduzieren. Auch die Seetopografie verändert sich und wird immer schilfiger. „Planrodungen sollten wieder aufgenommen werden. Gerade wenn man mit der Natur arbeitet, muss man in längeren Zeiträumen denken“, betont Matthias Grün, Vorstand der Esterhazy Privatstiftungen. Auch der Nationalpark-Direktor spricht sich für ein kontrolliertes Abbrennen der alten Schilfflächen aus: „Das Feuer gehört zur Natur wie der Tod zum Leben.“ Er appelliert zudem für einen Umstieg von alpiner zu mediterraner Wasserwirtschaft: „Bei der alpinen Wasserwirtschaft versucht man das Wasser möglichst schnell wegzubringen. Hochwasser ist schlimm, aber Austrocknung ist noch schlimmer – da helfen keine Aufräumarbeiten.“ 

Die Trockenheit und die Hitze wirken auf alles – Politik, Tourismus, Landwirtschaft, Forstwirtschaft bis hin zu Immobilien. Für die Zukunft der Region Neusiedler See braucht es deshalb ein Zusammenspiel verschiedener Akteure und Faktoren. Die Lage sei ernst, aber nicht aussichtslos. Eines ist für Matthias Grün jedenfalls schon klar: „Es ist kein burgenländisches Problem, sondern hier ist es nur als erstes sichtbar.“